Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus (57)
Als dann dichter Schnee niederfiel und die Erde verhüllte, konnte ich leicht die ungefügen Fußstapfen des Fliehenden erkennen.
Sie treten ja erst ins Leben ein, und Sorge und Leid ist Ihnen fremd; daher werden Sie auch kaum verstehen, was ich fühlte und heute noch fühle. Kälte, Entbehrungen und Erschöpfung waren meine geringsten Leiden; ich war einem bösen Geiste verfallen und trug eine Hölle in meiner Brust. Aber auch gute Engel schwebten um mich und meine Wege. Und gerade, wenn ich am meisten murrte, halfen sie mir über die scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten hinweg. Oftmals, wenn ich von Hunger gepeinigt niedersinken wollte, ward mir in der Wüste eine Mahlzeit bereitet, die mich stärkte und erfrischte. Einfach war sie ja, so wie sie eben die Landleute essen; aber ich hege keinen Zweifel, daß dabei die guten Geister ihre Hand im Spiele hatten, deren Hilfe ich angerufen. Und wenn alles trocken, der Himmel wolkenlos
war, dann erschien auf mein heißes Flehen eine kleine Wolke, erfrischte mich mit ihrem Naß und zerfloß wieder. Wenn irgend möglich, hielt ich mich am Ufer von Flüssen; aber gerade diese vermied der Dämon, weil sich hier die Bevölkerung dichter angesiedelt hatte. Die Wege, die er suchte, führten fernab von menschlichen Wohnstätten. Die Tiere des Waldes und des Feldes, die meine Pfade kreuzten, mußten mir dazu dienen, mein Leben zu fristen. Ich hatte Geld bei mir und gewann mir das Zutrauen der wenigen Menschen, die mir begegneten, durch meine Freigebigkeit. Oftmals auch verfuhr ich in der Weise, daß ich getötetes Wild, nachdem ich meine kleine Portion davon genossen, denen überließ, die mir Herd und Obdach gewährt hatten.
Es war wirklich ein elendes Dasein, das ich da fristete, und nur im Schlafe empfand ich zuweilen noch etwas wie Glück. Gesegneter Schlaf! Wenn ich auch noch so elend war, brauchte ich mich nur zur Ruhe zu legen, um in glücklicheren Sphären zu schweben. Die Schatten meiner Lieben waren es sicherlich, die mir diese glücklichen Augenblicke, oder besser gesagt Stunden, verschafften, damit ich aus ihnen die Kraft schöpfte, die ich zur Durchführung meiner Absicht bedurfte. Wäre mir dieser Trost versagt geblieben, ich wäre sicher unter den unsäglichen Mühsalen zusammengebrochen. Den ganzen Tag schon freute ich mich auf die Nacht, denn dann sah ich wieder mein Weib und meine teure Heimat und das liebe Gesicht meines Vaters. Ich hörte die silberne Stimme meiner Elisabeth und sah meinen Freund Clerval in seiner ganzen Kraft bei mir. Oftmals redete ich mir ein, daß die Mühsale, die ich unterwegs ertrug, nur ein schwerer Traum, die Gesichte der Nacht aber freundliche Wirklichkeit seien. In solchen Momenten erstarb die Rachsucht fast ganz in meinem Herzen und ich folgte dem mir gewiesenen Pfade mehr wie einem mir von oben gegebenen unbewußten Impulse, als einem inneren Bedürfnis. Was der empfand, den ich verfolgte, weiß ich nicht. Mehreremale fand ich Inschriften von ihm auf Baumrinden oder Steinen, die mir den Weg wiesen und meine Wut von neuem anstachelten. „Meine Herrschaft ist noch nicht vorüber“, so las ich z. B. einmal auf einem Felsblock, „du lebst, und das ist es, was ich will. Komm; ich gehe zu den Regionen des ewigen Eises, wo du unter dem furchtbaren Frost leiden wirst, gegen den ich unempfindlich bin. Du wirst nicht weit von hier einen toten Hasen finden, aber beeile dich; iß ihn, und du wirst dich wieder neu gestärkt fühlen. Komm, mein Feind, wir haben noch um unser Leben zu würfeln, aber noch viel Schmerz und Trübsal wird dir bis dahin zuteil werden.“
Spöttischer Teufel! Wieder schwor ich mir, mein Rachewerk nicht aufzugeben, sondern meinen Peiniger einem grausamen Tode zu überliefern. Lieber wollte ich zu Grunde gehen als meinen Plan aufgeben. Mit welcher Freude werde ich mich mit denen vereinigen, die mir im Tode vorausgegangen waren, und mich entschädigen für all das Leid meines Lebens und die Qualen meiner letzten Fahrt!
Je weiter ich nach Norden kam, desto tiefer wurde der Schnee, desto schärfer die Kälte, sodaß ich oft nicht mehr glaubte sie ertragen zu können. Die wenigen Bewohner dieser Landstriche hielten sich in ihren Hütten verborgen, und nur die kühnsten von ihnen wagten es dem Froste zu trotzen, um das Wild zu fangen, das, von der Kälte erstarrt aus seinen Schlupfwinkeln kam, um Futter zu suchen. Die Flüsse waren von einer festen Eisdecke überspannt, und Fische, von denen ich sonst zum größten Teil lebte, waren nicht zu haben.
Je größer die Mühseligkeiten wurden, die ich zu überwinden hatte, desto lauter triumphierte mein Feind. Eine seiner Inschriften lautete: „Mache dich auf Schweres gefaßt; deine Leiden beginnen ja jetzt erst. Hülle dich vorsorglich in Pelze und sorge, daß dir die Vorräte nicht ausgehen; denn bald kommen wir in Landstriche, wo du so Furchtbares zu dulden haben wirst, daß selbst meine unauslöschliche Rachsucht zufriedengestellt sein wird.“
Durch diese höhnischen Aufforderungen wurde mein Mut und meine Ausdauer immer wieder neu belebt. Ich bat den Himmel um Kraft und durchzog die unendlichen Ebenen, bis der Ozean am Horizont erschien wie eine graue Barriere. O wie anders ist doch das Meer, das im Süden blaut! Mit Eis bedeckt, unterschied es sich vom festen Land nur durch seine Zerrissenheit und Wildheit. Die Griechen weinten einst vor Freude, als sie von der Höhe des Gebirges aus das Mittelmeer erblickten, und jubelten, weil endlich ihre Mühsalen zu Ende gingen. Ich weinte nicht, aber ich sank auf die Kniee und dankte meinem guten Geiste, daß er mich so weit geführt, meinem Feinde zum Trotz, den ich nun bald fassen und niederringen durfte. Schon einige Wochen war es her, daß ich mir einen Schlitten und Hunde angeschafft hatte, mit denen ich in fliegender Hast die Schneewüsten durchquerte. Ich weiß nicht, ob mein Feind sich derselben Mittel bediente; aber wenn ich bisher immer weiter hinter ihm zurückgeblieben war, so kam ich ihm jetzt doch wieder näher. Als ich den Ozean schaute, war er mir mehr als eine Tagesreise voraus, und ich hoffte, mit ihm zugleich den Strand zu erreichen. Ich spannte deshalb alle meine Kräfte an und kam nach zwei Tagen an einen einsamen Weiler in der Nähe der Küste. Ich fragte die Bewohner nach dem, den ich verfolgte, und erhielt genaue Auskunft. Ein gigantisches Ungeheuer, erzählten sie mir, sei in der vorhergehenden Nacht angekommen. Es sei mit einer Flinte und Pistolen bewaffnet gewesen und habe durch sein schreckliches Aussehen alle in Furcht versetzt, sodaß sie aus ihren einsamen Hütten flohen. Er hatte ihnen ihre ganzen Wintervorräte weggenommen und sie auf einen Schlitten verladen, der mit einer Menge Hunde bespannt war. In der gleichen Nacht sei er dann zur Freude der geängstigten Bewohner in das zugefrorene Meer hinausgefahren, und zwar in einer Richtung, in der kein Land lag.