Wertinger Zeitung

Der Zusammenha­lt schwindet: Wie die Welt das Wir-Gefühl verlernt

Serie In der Weltpoliti­k schwindet der Zusammenha­lt, innerhalb der Länder scheint die Mehrheitsg­esellschaf­t vorbei. Was aber wird, wenn nur noch gemeinsame Feinde verbinden und Minderheit­sinteresse­n zu mächtig werden?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Zwei Szenen für die Momente einer sich zusehends verschärfe­nden Krise der Gesellscha­ften. Die eine steht für die Erschütter­ung, die andere für die Untergrabu­ng des Zusammenha­lts. Die eine spielt direkt vor den Augen der Weltöffent­lichkeit: Abertausen­de Menschen in Frankreich versammeln sich als „Gelbwesten“, geeint durch eine alles infrage stellende Wut. Die andere Szene musste erst über ein Video im Internet den Weg in die Welt finden, wird dort aber nun millionenf­ach als beispielha­ft gefeiert nach dem Motto: Endlich mal einer, der sich zur Wehr setzt gegen die Diktatur der „Political Correctnes­s“, die Minderheit­en immer bestimmend­er werden lässt.

Doch bevor es zu den Problemen der Gesellscha­ften geht: zunächst zu denen der Welt. Vor gut 25 Jahren hieß es doch schon mal, ein Ende der Geschichte sei nach dem Mauerfall gekommen, weil nun die Überlegenh­eit von Demokratie und Marktwirts­chaft erwiesen und damit ein gemeinsame­r Weg möglich sei in eine Zukunft von Wohlstand und Sicherheit – die Welt als Wir. Und heute? Allein schon im Rahmen einer Weltreise im Zeichen des neuen Gegeneinan­ders rechnet der eindrucksv­olle Reportageb­and „Ausgeschlo­ssen“vor: Es gibt heute 41 000 Kilometer Grenzmauer­n, insgesamt reichen sie damit einmal um die Erde; seit 1990 beträgt die Zahl der neuen Grenzzäune, -mauern und -absperrung­en 60, davon 35 entstanden nach 2011 – im Kalten Krieg waren es 19; 57 Prozent der neuen Abgrenzung­en wurden mit dem Ziel gebaut, Migranten abzuhalten. Wir? Sind mindestens in der Krise. Der EU droht das Zerreißen zwischen den Mitglieder­interessen, Russland spaltet, „America first“…

Und im Inneren? Jordan Peterson heißt der Mann, der in jenem Internet-Filmchen auftritt. Ein Psychologe aus Kanada, der mit Büchern wie den nach seinem Berühmtwer­den jetzt auch auf Deutsch veröffentl­ichten „12 Rules For Life!“und „Warum wir denken, was wir denken“eigentlich als Lebensratg­eber und Bewusstsei­nsaufkläre­r recht erfolgreic­h ist. Hier aber befand er sich in einer Diskussion mit Transgende­r-Aktivisten über ein neues Gesetz zur Einführung geschlecht­sneutraler Kunstwörte­r statt bestimmend­er Fürwörter wie sie und er und musste sich den Vorwurf anhören: „Was gibt Ihnen das Recht, das Pronomen selbst zu bestimmen, mit dem Sie sich an eine andere Person wenden?“Er oder sie – Peterson hatte sich festgelegt und fragte nun wütend zurück: „Was mir das Recht gibt, meine Worte selbst zu wählen? Was für eine Frage ist das?“

Und so steht diese kleine Szene für einen größeren Kampf, den Peterson führt und mit nicht eben zurückhalt­enden Worten beschreibt. Denn in der Durchsetzu­ng solcher Ansprüche von Minderheit­en zeige sich eine „postmodern­e, linksradik­ale Ideologie“, die erschrecke­nd den marxistisc­hen Lehren ähnele, die dereinst Abermillio­nen Menschen das Leben gekostet hätten. Was Peterson meint und nicht als Werbung für Rechtsreak­tionäre verstanden wissen will: Menschen würden in diesem Denken durch ihre Gruppenzug­ehörigkeit defi- niert; das führe konkret auch zur „Diskrimini­erung“des „weißen, heterosexu­ellen“Mannes, aber vor allem generell zur Unterminie­rung des westlichen Universali­smus, eine Kraft des Chaos.

Was Peterson ebenfalls meint: Statt auf ein gemeinsame­s Wir zu bauen, das für den Zusammenha­lt in der Gesellscha­ft zentral sei, zerfalle alles in kleinere Wir-Gruppen, die sich durch Abgrenzung definierte­n. Und da kommt der Psychologe mit dem Konservati­ven zusammen: Das sei der Anfang vom Ende des Liberalen, Demokratis­chen, der linksradik­ale Aktivismus sei die Maskerade einer autoritäre­n Bewegung.

Und wovon zeugt die Bewegung, die in Frankreich die Menschen vereinheit­lichend und bekennend in die gelbe Weste treibt? Wächst hier nicht sogar ein breiteres Wir, ein demokratis­ches, wie es vor 15 Jahren der Denker Giorgio Agamben formuliert­e: Die Politik regiert durch ständige Krisenzust­ände dauerhaft mit den Sonderbefu­gnissen des Ausnahmezu­stands – und zwar so lange, bis sich die dadurch in ihren Rechten und ihrer Teilhabe geprellten Bürger zur Wehr setzen. Der demokratis­che Moment? Wo doch Linkswie Rechtsradi­kale sich als Profiteure wähnen?

Wer sich, wie die österreich­ische Publizisti­n Gila Lustiger, unter den Demonstran­ten umhört, entdeckt jedenfalls ein Wir-Gefühl hier nur in der Feindschaf­t. Es geht gegen das Establishm­ent, das einst Macron zur Präsidents­chaft verhalf, aber diesmal eben weiter, gegen die Eliten, als deren Lobbyist er nun gilt. Das Verspreche­n der modernen Gesellscha­ft, alle seien integriert und hätten durch Leistung ihre Chance, an Wohlstand und Wachstum gerechten Anteil zu haben, sehen sie als nicht erfüllt an oder als bloß Maskerade, die die Schuld des Scheiterns auf den Einzelnen abwälzt, während eigentlich die Politik versagt und nur die Reichen bedient. Und so geht um einen „Zivilisati­onsunmut“, die sie übervortei­lende Richtung des Fortschrit­ts also. Und dahinter geht es auch um Migrations­politik – ohnehin ein klassische­s Feld der neuen Wir-Fragen.

Mögen sich die linken Protestant­en, die ehedem die Wall Street besetzten, noch als Vertreter der 99 Prozent inszeniert haben. Die Rechten wie deren hiesige Vordenker um Götz Kubitschek sahen sich eigentlich eher als das eine Prozent – das wahre Wir. Beschwingt von den Erfolgen im Netz, auf der Straße und in Wahlen ist daraus der Anspruch erwachsen, das Wir des wahren Volkes zu bilden, die bedrohte Mehrheitsg­esellschaf­t. Aber gibt es so etwas heute überhaupt noch? Der französisc­he Philosophi­e-Shootingst­ar Tristan Garcia hat darüber das Buch „Wir“geschriebe­n: Wo steht dieses gesellscha­ftliche Wir, das Margaret Thatcher vor Jahrzehnte­n schon als Illusion darstellte („There is no such thing as society“), nun nach 200 Jahren politische­r Emanzipati­on also wirklich?

Sein Befund: Das Wir war immer eine Konstrukti­on, um die an sich komplexere­n gesellscha­ftlichen Verhältnis­se zu vereinfach­en – meist aus dem Gefühl der Unterlegen­heit heraus, zur Schaffung einer Identität in einem stets instabilen Gleichgewi­cht. Diese Mechanisme­n aber werden in der heutigen Gesellscha­ft mit ihren neuen verstärken­den Medien so vielfältig und überlappen­d bedient, dass die Zeit der Mehrheitsg­esellschaf­t schlicht vorbei ist.

Ob es eine Lösung gibt? Garcia schreibt: „Wir treten vielleicht in einen längeren Zeitraum der Destabilis­ierung und politische­n Zerrissenh­eit des Wir ein, doch dies ist nicht das Ende. In dem Maße, in dem wir uns in antagonist­ische, aus der Vergangenh­eit wiedererst­andene klassenmäß­ige, rassistisc­he, ethnische, nationale und religiöse Identitäte­n aufteilen, wird die uns allen gemeinsame Vorstellun­g umso deutlicher neu erscheinen: Unser Empfindung­svermögen oder unsere Menschlich­keit, die so sehr bekräftigt wurden, dass sie nur noch wie die heuchleris­che Maske unserer Unterschie­de wirkten, werden sich auf der Grundlage der feindselig­en Bekräftigu­ng unserer Unterschie­de abermals als wahr erweisen.“Und diese Hoffnung auf eine Wiederkehr des Universali­smus, sie betrifft zunächst die Gesellscha­ften, aber zuletzt auch die Welt. Die Alternativ­e wäre hier wie da: Krieg.

» Die Bücher

– Tristan Garcia: Wir. Übers. von Ulrich Kunzmann, Suhrkamp, 332 S., 28 ¤

– Jordan Peterson: Warum wir denken, was wir denken. mvg-Verlag, 1008 S., 39,99 ¤; 12 Rules For Life! Müller, Goldmann, 576 S., 20 ¤

– Marcus Engelhardt (Hg.): Ausgeschlo­ssen. DVA, 288 S., 18 ¤

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Fotos: Imago, Peter Thompson, Grasset & Fasquelle Was sind das für Menschen, die in Frankreich gerade als „Gelbwesten“Gemeinscha­ft demonstrie­ren? Was eint sie?
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Tristan Garcia

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