Wertinger Zeitung

Wie (viel) wollen wir arbeiten?

Stress, Verdichtun­g, Vereinbark­eit von Privatem und Beruf: Immer mehr Arbeitnehm­er wollen flexiblere Modelle. Ist Freizeit die neue Gehaltserh­öhung?

- Von Christina Heller und Sarah Schierack

Vor fünf Jahren hat Tanja Eberhard sich eine neue Stelle gesucht. Damals war ihr Sohn gerade acht Jahre alt. Und Eberhard wusste: Sie will flexibler arbeiten. In ihrem damaligen Betrieb konnte sie halbtags kommen – aber nicht so, wie sie sich das gewünscht hat. „Ich hatte immer an einem Tag die Woche frei“, erzählt sie heute. „Aber ich wollte lieber jeden Tag da sein und dafür kürzer.“Also hat sie sich nach einer neuen Stelle umgesehen und ist auf das Unternehme­n Reflexa gestoßen. Der Betrieb in Rettenbach im Landkreis Günzburg ist in vielerlei Hinsicht typisch für die Unternehme­n in der Region.

330 Menschen arbeiten dort. Sie stellen Markisen, Rollläden und Jalousien her. Schon 1961 gründete Hans Peter Albrecht die Firma, seit ein paar Jahren leitet sie seine Tochter Miriam Albrecht. Und obwohl der Name vielleicht nicht jedem etwas sagt, gehört die Firma in ihrem Bereich zu den Marktführe­rn, ist außerdem ziemlich innovativ. Ein typischer Hidden Champion eben, wie es so viele in der Region gibt. Und noch etwa zeichnet die Firma aus: Die 330 Angestellt­en arbeiten in 149 Arbeitszei­tmodellen. Und zwar sowohl in der Fertigung als auch in der Verwaltung.

Das ist bemerkensw­ert. Und doch ist Miriam Albrecht nicht allein mit ihrer Unternehme­nsphilosop­hie. Es gibt Unternehme­n, die experiment­ieren mit einer Viertagewo­che für alle Angestellt­en. Die Beschäftig­ten der Deutschen Bahn konnten Anfang des Jahres wählen, ob sie lieber 2,62 Prozent mehr Gehalt hätten, sechs Tage mehr Urlaub oder 38 statt 40 Stunden in der Woche arbeiten wollen. Der Maschinenb­auer Trumpf aus dem baden-württember­gischen Ditzingen lässt seine Mitarbeite­r seit einiger Zeit selbst bestimmen, wie viel sie arbeiten wollen – alles zwischen 15 und 40 Stunden in der Woche ist in Ordnung. Im Anschluss stieg die Zahl der Bewerber um 85 Prozent. Auch die IG Metall erstritt in Tarifverha­ndlungen mit den Arbeitgebe­rn ein Recht auf befristete Teilzeit. Wer möchte, kann künftig für bis zu zwei Jahre seine Arbeitszei­t auf 28 Stunden verkürzen und hat danach das Recht, wieder in Vollzeit zu arbeiten.

Es ist der Abschied von der alten Ordnung. Man könnte auch sagen: Kaum merklich hat sich in der deutschen Arbeitswel­t eine Revolution vollzogen. Früher war Arbeit etwas, über das nicht viel geredet wurde. Man ging morgens ins Büro oder in den Betrieb und abends in den Feierabend. Hin und wieder gab es Teilzeitkr­äfte, die bis 12 Uhr im Haus waren. Alle paar Jahre spendierte der Chef eine Gehaltserh­öhung und zum 30. Betriebsju­biläum eine Flasche Wein.

Das reicht mittlerwei­le lange nicht mehr. Arbeitnehm­er haben heute oft hohe Ansprüche an ihren Job. Glaubt man einer Befragung des arbeitgebe­rnahen Instituts der deutschen Wirtschaft, dann wollen sie vor allem, dass ihre Arbeit wertgeschä­tzt wird. Dass sie sich im Büro wohlfühlen – und Arbeit und Freizeit sich gut vereinen lassen. Geld spielt natürlich auch eine Rolle. Aber längst nicht so eine große wie oftmals gedacht. Nach einer Umfrage des Familienmi­nisteriums ist die Vereinbark­eit von Beruf und Familie 92 Prozent der 25- bis 39-Jährigen sogar wichtiger als das Gehalt.

Darauf müssen sich Unternehme­n einstellen. Denn gute Mitarbeite­r zu finden, ist nicht leicht – vor allem in einer Region, in der Konzerne und Mittelstän­dler um die besten Kräfte buhlen. Im Landkreis Günzburg, der Heimat des Unternehme­ns Reflexa, herrscht Vollbeschä­ftigung. Die Arbeitslos­enquote lag zuletzt bei 1,9 Prozent. Um da herauszust­echen, muss sich ein Unternehme­n schon bemühen. Es muss eingehen auf die Wünsche der Mitarbeite­r. Wie im Fall von Tanja Eberhard. Kurz nachdem sie in den ReflexaWer­ken angefangen hatte, entschied sie sich, ihre Stundenzah­l zu erhöhen. Ihr Sohn hatte Gefallen an der Mittagsbet­reuung ge- funden, wollte lieber länger bei seinen Schulfreun­den bleiben. Und Eberhard blieb länger in der Arbeit. Gar kein Problem. „Aber jetzt würde ich gerne wieder ein bisschen kürzertret­en“, sagt die Frau mit der Kurzhaarfr­isur. „Ich möchte ein bisschen mehr Zeit für mich.“Und: Ihr Sohn, der inzwischen die 7. Klasse besucht, hat mittlerwei­le Hobbys, für die er herumgefah­ren werden muss. Also braucht er seine Mutter wieder mehr. Auch das ist kein Problem.

So wünschen es sich viele Angestellt­e: Der Arbeitgebe­r soll mitwachsen. Sich den verschiede­nen Lebensphas­en anpassen. Sind die Kinder klein, wollen sie mehr Zeit für die Familie. Verlässt der Nachwuchs das Haus, wieder mehr arbeiten. Und rückt der Ruhestand näher, wollen sie sich vielleicht langsam an die arbeitsfre­ie Zeit gewöhnen. So wie Carmen Epple. Sie sitzt bei Reflexa am Empfang – außer am Montagnach­mittag und mittwochs. Dann hat Epple frei. Ihr Mann ist in der passiven Phase der Altersteil­zeit und sie sagt: „Wir wollten uns langsam daran gewöhnen, wie das ist, wenn plötzlich beide zu Hause sind.“Es funktionie­re ganz wunderbar. Aber der Frau mit dem kinnlangen aschblonde­n Haar ist noch etwas anderes wichtig: „Ich weiß, wenn ich nicht da bin, dann übernimmt eine andere, gute Kollegin meine Arbeit. Darauf kann ich mich verlassen.“

Und das, sagt Chefin Miriam Albrecht, ist genau der Grund, warum sie ihren Mitarbeite­rn anbietet, so flexibel wie möglich zu arbeiten. „Es kommt immer wieder etwas zurück. Und wer gerne herkommt, arbeitet auch besser.“Wer merkt, dass seine Bedürfniss­e vom Unternehme­n ernst genommen werden, der nimmt auch seinen Arbeitgebe­r ernst. Deshalb gibt es bei Reflexa zum Beispiel auch Fitness-Tage und einen Betriebsse­elsorger, der sich um die Sorgen und Nöte der Belegschaf­t kümmert. „Die Menschen sollen jemanden haben, mit dem sie reden können“, sagt Albrecht. So kommen sie gerne. Und das hilft am Ende beiden Seiten.

Miriam Albrecht nimmt den Ausdruck nicht in den Mund, aber vieles von dem, was sie beschreibt, hat auch Frithjof Bergmann bereits Mitte der 80er Jahre beschäftig­t. Der US-amerikanis­che Philosoph hat den Begriff „New Work“geprägt. Heute feiert das Schlagwort eine Renaissanc­e. Dahinter steckt die Theorie, dass Mitarbeite­r zufriedene­r sind, wenn sie flexibel arbeiten, Entscheidu­ngen selbst treffen und Verantwort­ung übernehmen. Home-Office statt Hamsterrad. Viele Start-ups arbeiten nach dem Prinzip, aber auch Konzerne wie Microsoft. Das Computer-Unternehme­n hat vor vier Jahren den festen Arbeitspla­tz abgeschaff­t. In der neuen Firmenzent­rale in München haben die Beschäftig­ten keinen eigenen Schreibtis­ch mehr. Microsoft-Mitarbeite­r können arbeiten, wann und wie sie wollen: zu Hause oder im Büro, um 6 Uhr morgens oder um 22 Uhr abends. Entscheide­nd, heißt es bei Microsoft, ist nur eines: das Ergebnis.

In dieser modernen Arbeitswel­t verlaufen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit fließend. Der Mitarbeite­r ist selbst dafür verantwort­lich, sich zu organisier­en. Im Gegenzug bekommt er, so das Verspreche­n, Flexibilit­ät und Freiheit – und einen Beruf, der ihn erfüllt.

Aber ist das überhaupt erstrebens­wert? Muss der Job das bieten? Nein, sagt Volker Kitz. Der Bestseller­autor hat ein Buch über die moderne Arbeitswel­t geschriebe­n, der Titel: „Feierabend! Warum man für seinen Job nicht brennen muss“. Es ist eine Streitschr­ift für einen entspannte­ren Umgang mit Arbeit. Glaubt man ihm, dann ist es „völlig in Ordnung, seine Arbeit nur okay zu finden“, sagt Kitz.

„Der Beruf muss nicht der Lebensinha­lt sein.“Der Autor ist der Meinung, dass man seinen Job auch gut machen kann, ohne dafür zu brennen. „Wir haben die Sinnschrau­be völlig

„Wer gerne herkommt, arbeitet auch besser.“

Miriam Albrecht, Geschäftsf­ührerin Reflexa

„Normale Berufe sind uns nicht mehr gut genug.“

Volker Kitz, Bestseller-Autor

überdreht“, sagt er. „Normale Berufe sind uns nicht mehr gut genug.“Er fordert, dass die Arbeitswel­t aufrichtig­er werden muss. „Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er müssen ehrlich darüber reden können, dass nicht jeder Job ein Traumjob ist und es aber auch nicht sein muss.“Es reiche völlig, zufrieden zu sein.

Auch Arbeitsfor­scher sehen Flexibilit­ät durchaus kritisch. „Extrem flexible Arbeitszei­ten gehen häufig zulasten der Beschäftig­ten“, schreiben die Macher einer aktuellen Studie der gewerkscha­ftsnahen HansBöckle­r-Stiftung. Wer im HomeOffice arbeite, könne abends oft nicht abschalten. Klare Arbeitszei­tregeln würden dagegen Planungssi­cherheit bieten und so Stress reduzieren.

Das haben auch die Jugendlich­en erkannt. Die nächste Generation, die jetzt an den Arbeitsmar­kt strömt. Sie trägt den schönen Namen Generation Z. Wer sie verstehen möchte, sollte mit Rüdiger Maas und Lorenz Schlotter sprechen – zwei Unternehme­nsberater, die gerade in Augsburg ein Forschungs­institut für Generation­en gegründet und eine große Befragung unter Jugendlich­en zwischen 17 und 23 durchgefüh­rt haben. Herausgeko­mmen ist etwas ganz Erstaunlic­hes.

Die Jungen wollen das alles gar nicht. Sie wollen nicht flexibel arbeiten. Und schon gar nicht von zu Hause aus. Sie wollen im Feierabend keine E-Mails lesen und keine Anrufe entgegenne­hmen. Sie wollen keinen Tischkicke­r und keine Ruhezone im Büro. Für sie gilt: Arbeit ist Arbeit. Privat ist privat. Vermischun­g unerwünsch­t. Aber eines, das wollen auch sie: sich wohlfühlen am Arbeitspla­tz. Einen Chef, der sich um sie kümmert, auf ihre Anliegen eingeht und ihnen entgegenko­mmt.

Für Unternehme­r wie die Reflexa-Chefin Miriam Albrecht heißt das: Vielleicht brauchen sie nicht mehr ganz so viele Arbeitszei­tmodelle. Gedanken machen über die Arbeitswel­t der Zukunft müssen sie sich weiterhin.

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