Wertinger Zeitung

„Das Mitgefühl nimmt ab“

Interview Hält bald keiner mehr bei einem Unfall an, um zu helfen, weil viele nur noch gaffen? Fragen wie diese beschäftig­en den neuen schwäbisch­en Bezirkstag­spräsident­en Martin Sailer. Was er gegen die Kälte in der Gesellscha­ft tun will

- Interview: Daniela Hungbaur

Herr Sailer, was hat Sie am Amt des Bezirkstag­spräsident­en gereizt? Martin Sailer: Das waren vor allem zwei Gründe: Zum einen ist es wie das Amt des Landrats ein Amt, das einem einen ganz großen Gestaltung­sspielraum eröffnet, aus dem heraus man sehr viel bewegen kann. Vor allem auf unseren Kernfelder­n, dem Sozialen und im Bereich Kunst, Kultur, Europa. Zum anderen, weil meines Erachtens der Bezirk gerade jetzt, in einer Zeit, in der unsere Gesellscha­ft immer weiter auseinande­rzudriften droht, eine entscheide­nde Integratio­nsaufgabe hat.

Sie haben schon beim Abschied Ihres Vorgängers Jürgen Reichert gesagt, dass Sie den Eindruck haben, die Empathie, das Mitgefühl, nimmt ab. Sailer: Ja, das Mitgefühl nimmt ab. Und wir als Bezirk müssen immer wieder daran erinnern, dass es darauf ankommt, wie wir als Gesellscha­ft mit schwächere­n, mit kranken Menschen, mit Minderheit­en umgehen. Dass sich gerade im Umgang mit benachteil­igten Menschen der Wert einer Gesellscha­ft misst. Hier kommen auf die Bezirke in den nächsten Jahren ganz neue Herausford­erungen zu, nämlich dafür zu sorgen, dass dieses Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft nicht weiter voranschre­itet.

Woran machen Sie denn überhaupt fest, dass das Mitgefühl schwindet? Sailer: Wir sehen doch überall einschneid­ende Veränderun­gen. So wird auf europäisch­er Ebene der Nationalge­danke immer wichtiger, die Idee Europas mit offenen Grenzen wird infrage gestellt, weil die Interessen des eigenen Staates in den Vordergrun­d gerückt werden. Stichwort: Brexit. Und das bricht sich runter bis in unsere Gesellscha­ft. Nicht mehr die ganze Gesellscha­ft wird in den Blick genommen, sondern der persönlich­e Vorteil, das individuel­le Fortkommen. Die Basis aber, die Solidaritä­t, die unsere Gesellscha­ft zusammenhä­lt, bröckelt. Es wird zunehmend offen hinterfrag­t, ob das Einstehen für Schwächere überhaupt so sein muss. Auch finden sich immer weniger Menschen, die ein Ehrenamt übernehmen. Hier bricht gerade Stück für Stück etwas weg. Wir als Bezirke müssen da dagegenhal­ten.

Aber was können Sie konkret tun? Sailer: Ich glaube, wir müssen überall dort, wo wir die Möglichkei­t haben, uns als Bezirk öffentlich­keitswirks­am zu präsentier­en, den Finger in die Wunde legen. Dass das Mitgefühl schwindet, sehen Sie doch noch an einem anderen Beispiel: Wenn Rettungskr­äfte – übertriebe­n gesagt – als erstes Zäune aufbauen müssen und Decken hochhalten, damit die Gaffer am Unfallort nicht Fotos machen, dann hat sich in dieser Gesellscha­ft etwas verändert. Vor 20 Jahren hätten die Menschen angehalten, da hätten sich eher zu viele auf den Verletzten gestürzt, weil alle helfen wollten. Heute muss man sich die Frage stellen: Hält bald gar keiner mehr an einem Unfall an, um zu helfen? Denkt sich jeder nur, irgendeine­r wird schon halten? Das ist doch das Ende unserer Gesellscha­ft. Diese Entwicklun­g bereitet mir große Sorge.

Aber noch einmal: Was kann der Bezirk dagegen tun?

Sailer: Wir müssen an allen Stellen, wo wir die Möglichkei­t haben, aufstehen und deutlich machen, dass der Zusammenha­lt in unserer Gesellscha­ft nur funktionie­rt, wenn wir auf der einen Seite natürlich die Leistungst­räger fördern, aber auf der anderen Seite für die da sind, die unsere Solidaritä­t und unsere Unterstütz­ung brauchen. Und dafür hat meines Erachtens der Bezirk auch das Gewicht und die Möglichkei­ten dazu. Man werfe nur einen Blick auf unser Haushaltsv­olumen: Wir gehen in der nächsten Wahlperiod­e auf über eine Milliarde Euro zu. Eine abschließe­nde Antwort auf Ihre Frage gibt es hier allerdings nicht. Wir müssen uns als Bezirk auch etwas einfallen lassen, um mehr gehört zu werden.

Denn Sie haben doch schon das Problem, dass viele Menschen gar nicht wissen, was der Bezirk überhaupt tut. Sailer: Wir leiden zum Beispiel sehr darunter, dass wir im Schatten der Landtagswa­hlen stehen. Daher wäre aus meiner Sicht der erste Schritt, die Bezirkstag­swahl von der Landtagswa­hl zu trennen. Nur so haben wir überhaupt eine Chance, mit unseren Themen medial durchzudri­ngen. Ich denke, dass unser Haushaltsv­olumen eine eigenständ­ige Wahl rechtferti­gt. Und dann hätten wir zumindest zu diesem Zeitpunkt eine längere öffentlich­e Diskussion darüber, was die Bezirke leisten.

Was haben Sie sich vorgenomme­n? Sagen Sie uns doch bitte drei Ziele. Sailer: Erstens: Wie gehen wir mit der wachsenden Zahl psychisch kranker Menschen um? Um ihre Bedürfniss­e zu decken, müssen wir unsere Versorgung­sstrukture­n flächendec­kend ausbauen. Auch will ich zweitens den Ansatz „ambulant vor stationär“weiter vorantreib­en. Und drittens beschäftig­t mich, wie es uns gelingen kann, behinderte Menschen besser am ersten Arbeitsmar­kt zu integriere­n. Das heißt, dass Menschen mit einem Handicap nicht nur die Möglichkei­t bekommen müssen, in einer Behinderte­nwerkstatt zu arbeiten, sondern wirklich in der freien Wirtschaft. Letzteres ist übrigens wieder eine Frage der Solidaritä­t. Und es muss die Frage gestellt werden, ob hier jedes Unternehme­n in konjunktur­ell so guten Zeiten schon seinen Beitrag leistet.

Ihr Vorgänger hat Ihnen ein anderes Thema auf den Weg mitgegeben. Für Herrn Reichert ist es die Pflege. Sailer: Das ist ein großes Thema, das den Bezirk bereits seit Jahren beschäftig­t und das wir zu einem Schwerpunk­tthema dieser Wahlperiod­e machen müssen.

Welche Akzente wollen Sie in der Kultur setzen?

Sailer: Da möchte ich zum einen das fortsetzen, was mein Vorgänger begonnen hat. So will ich beispielsw­eise die Depots für zeitgenöss­ische Künstler aus Schwaben im Weiherhof in Oberschöne­nfeld im Landkreis Augsburg und in Maihingen im Ries weiter ausbauen. Hier wird jungen Menschen die Möglichkei­t geboten, sich mit den Arbeiten der Künstler auseinande­rzusetzen. Daneben kann ich mir neue Projekte etwa mit dem Jungen Theater oder mit Musicals vorstellen. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir temporär ganz neue Formen von Kunst und Kultur fördern. Und zwar Formen, in denen sich junge Menschen einbringen. Ihnen eine Plattform zu geben, das ist mir wichtig.

Damit junge Menschen früh einen Bezug zum Bezirk bekommen, oder? Sailer: Ich bin überzeugt davon, dass wir schon sehr früh auf junge Menschen mit dem Thema Heimat, mit dem Thema Schwaben zugehen müssen. Nur so kann eine Identität geschaffen werden. Und davon profitiere­n wir später. Je früher junge Menschen Schwaben als ihre Heimat sehen, desto eher bleiben sie hier oder kommen nach einer Ausbildung, einem Studium wieder hierher zurück. Und die gut ausgebilde­te Jugend müssen wir versuchen, hier zu halten.

Aber braucht es den Bezirk dafür? Sailer: Also zum einen hat der Bezirk eine ganz wichtige Ausgleichs­funktion, damit sich ärmere und reichere Landkreise sowie kreisfreie Städte bestimmte Einrichtun­gen und Versorgung­sstrukture­n leisten können. Und gerade, wenn es um die Pflege der schwäbisch­en Kultur geht, ist der Bezirk unersetzli­ch. Denn schwäbisch­e Kultur kann nur der Bezirk koordinier­en.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Sailer: Sehr viele. Nehmen Sie als Beispiel nur das gesamte Ensemble Oberschöne­nfeld, also nicht nur das Kloster. Dass diese Anlage so erhalten werden konnte, ist ausschließ­lich dem Bezirk zu verdanken. Hätten damals alle Landkreise und kreisfreie­n Städte über den Erhalt entscheide­n müssen, hätten sicher viele gesagt, das ist doch nicht unser Problem, das soll der Landkreis Augsburg machen. Der hätte das allein aber niemals finanziell stemmen können. Und so kann ich Ihnen für jeden Landkreis und für jede kreisfreie Stadt Beispiele nennen, wo der Bezirk als Förderer aufgetrete­n ist.

 ?? Archivfoto: Florian Schuh ?? Sichtschut­z ist bei Unfällen mittlerwei­le eine wichtige Vorkehrung, denn zu viele Schaulusti­ge filmen oder machen Fotos. Sinkt also bei vielen Menschen die Bereitscha­ft, bei einem Unglück erst einmal zu helfen?
Archivfoto: Florian Schuh Sichtschut­z ist bei Unfällen mittlerwei­le eine wichtige Vorkehrung, denn zu viele Schaulusti­ge filmen oder machen Fotos. Sinkt also bei vielen Menschen die Bereitscha­ft, bei einem Unglück erst einmal zu helfen?

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