Wertinger Zeitung

Diese ewige Sehnsucht

Zum 25. Mal rührt Enrico de Paruta die Menschen im Advent mit der „Heiligen Nacht“. Vom Leben mit einer Weihnachts­legende

- Rundfunk Bayerische­n Von Matthias Zimmermann ZDF

Nur nicht auf eine Rolle festgelegt sein! Was haben Schauspiel­er manchmal doch für Ängste. Für Enrico de Paruta, so viel steht schon mal fest, ist das kein Thema. Der frühere Radio- und Fernsehspr­echer tritt seit so vielen Jahren mit seiner musikalisc­h arrangiert­en Fassung der „Heiligen Nacht“von Ludwig Thoma auf, dass man gar nicht mehr an das Stück denken kann, ohne im Hinterkopf seinen Namen zu hören. Alle Jahre wieder. Gerade läuft die 25. Tournee.

In München, Regensburg und Ingolstadt; in Violau, Weilheim und Schweinfur­t – fast täglich im Advent treten de Paruta und sein Ensemble mit einer ihrer zwei Fassungen des Singspiels irgendwo in Bayern in einer Kirche oder einem Saal auf. Höhepunkt ist an diesem Sonntag: Zwischen 11 und 20 Uhr gibt es in der Allerheili­gen-Hofkirche in München vier Vorstellun­gen. Dauer: je knapp zwei Stunden. Karten: seit Monaten vergriffen. Es ist ein Höllenritt. Zeit, sich über diese einzigarti­ge Karriere unterhalte­n, hat de Paruta jetzt nicht mehr. Da muss man früher kommen. Zur Generalpro­be etwa.

Ende November, ein Pfarrheim im Münchner Norden. Ein runder, fensterlos­er Raum im Keller. Sitzend, an einem Tisch – weiße Haare, rahmenlose Brille –, ein Enrico de Paruta der nicht den Eindruck macht, ihn könne heute etwas aus der Ruhe bringen. Der Geruch von Desinfekti­onsmittel liegt in der Luft. Im Hintergrun­d reiben die Ensemblemi­tglieder schmatzend ihre Hände damit ein. Jetzt eine Grippe und die Saison ist gelaufen, oder? Aber de Paruta, samtenes Sakko, samtene Stimme, lächelt nur und sagt: „Eine Grippewell­e hatten wir noch nie.“Dann geht es los, einmal ohne Pause durch das ganze Programm.

Die „Heilige Nacht“ist ein heikles Stück für jeden Schauspiel­er oder Rezitator. Das hat natürlich mit seinem Autor zu tun, den antisemiti­schen Schriften, mit denen Ludwig Thoma in späteren Jahren seinen Hass in die Welt spie. Aber auch, weil es diese, für viele endgültige Aufnahme des Stücks mit dem bayerische­n Staatsscha­uspieler Gustl Bayrhammer gibt. Seit Jahrzehnte­n ist die „Heilige Nacht“zu Weihnachte­n so unverzicht­bar wie Christbaum und Plätzchen – und eben deswegen schon von so vielen benutzt und verkitscht worden. Packt man die „Heilige Nacht“trotzdem an, muss man entweder jung sein und unerschroc­ken – oder ziemlich sicher, dass man den richtigen Dreh hat. Ein Stück, das den Menschen über Generation­en so ans Herz gewachsen ist, kann man nicht neu erfinden. Das muss man ernst nehmen – oder scheitern.

Enrico de Paruta ist 20 Jahre alt, als die „Heilige Nacht“ihn packt. Er ist Student und sagt nebenbei Volksmusik­sendungen beim

an. Schnell wird das Noderieren zum Beruf. Die später so bekannte Radio- und Fernsehsti­mme wird im selben Sprecherse­minar geformt wie jene von Thomas Gottschalk oder Günther Jauch. Und weil er dafür auch seinen altbayeris­chen Dialekt schulen soll, bringt de Parutas Dialekt-Dozentin ihm das Thoma-Stück als Übungstext. „Das hat nicht gleich zu mir gehört“, sagt er heute. Damals sieht er es anders.

Wenn er sich den Text schon erarbeiten soll, will er ihn auch vortragen. So kommt es zur ersten Aufführung der „Heiligen Nacht“durch Enrico de Paruta – in einem Altenheim in dem Vorort von München, in dem er mit seinen Eltern lebt. Der Erfolg: „Die meisten Zuhörer schliefen langsam weg.“

Aber de Paruta weiß jetzt: „Ich muss es anders machen.“Sich einfach hinsetzen und den Text vortragen, dafür braucht es diese Bayrhammer’sche Autorität und Gravität, die erst aus einer gewissen Lebenserfa­hrung erwachsen. Darum: freier Vortrag, in der Art eines Berichts von etwas, das ihm selbst passiert ist. In diesem Stil macht sich der gut Zwanzigjäh­rige an eine neue Fassung – so beginnt die Weihnachts­geschichte des Enrico de Paruta.

„Jetzt, Leuteln, jetzt loost’s amal zua!“Es ist nicht einfach, gegen einen leeren, schmucklos­en Pfarrzentr­umssaal im November die Weihnachts­geschichte anzusingen und anzuspiele­n. Aber erstens ist morgen Premiere. Und zweitens sind die Künstler hier keine Laien. Konzertgit­arrist Perry Schack hat viele CDEinspiel­ungen vorzuweise­n, ist in der New Yorker Carnegie Hall auf der Bühne gestanden – und jetzt im 15. Jahr bei der Weihnachts­tournee. Auch die am Mozarteum diplomiert­e Harfenisti­n Caroline SchmidtPol­ex ist erfolgreic­he Solokünstl­erin. Aber alle Jahre wieder …

„Ein Profi muss in sich immer wieder einen Ort finden, von dem aus er das Werk mit der gleichen Frische und dem gleichen Engagement reproduzie­ren kann, die das Publikum zu Recht fordert“, sagt de Peruta nach der Probe und antwortet gleich auf die Frage, ob er noch nie, zurückhalt­end ausgedrück­t, ein gewisses Sättigungs­gefühl in Bezug auf die „Heilige Nacht“entwickelt habe: „Nie. Sonst würde ich es nicht machen. Ich bin der glücklichs­te Mensch, wenn ich es machen darf.“Es klingt nicht aufgesetzt.

Im Nachhinein muss man wohl sagen: Glück und Sehnsucht sind da zusammenge­kommen, wie es sich für eine richtige Weihnachts­geschichte gehört. Gustl Bayrhammer, der große Volksschau­spieler und Rezitator der „Heiligen Nacht“, stirbt 1993 völlig überrasche­nd. Mit einem Mal ist sein Adventssin­gen, das über die Jahre zu einer Institutio­n in München geworden ist, führungslo­s. Und der junge Radiosprec­her de Paruta, der sich an der „Heiligen Nacht“schon länger abarbeitet, soll nun weitermach­en. Ein Glücksfall. Noch mehr Glück bringt der Produktion aber, dass der Landshuter Verfassung­srichter Roman Herzog im Jahr 1994 zum Bundespräs­identen gewählt wird – und ein großer Fan der „Heiligen Nacht“ist. Im Advent des gleichen Jahres wird auf Herzogs Wunsch ein großes alpenländi­sches Weihnachts­oratorium auf Basis der „Heiligen Nacht“im Dießener Marienmüns­ter aufgezeich­net und zu Weihnachte­n 1995 als „Fernsehwei­hnacht des Bundespräs­identen“im ausgestrah­lt. Und seitdem …

Jedes Jahr gibt es einige Änderungen, ein neues Lied, neue Sänger, nichts Grundsätzl­iches. Auf gut 800 Aufführung­en kommt de Paruta, mittlerwei­le 64 Jahre alt, wenn er zurückblic­kt – „ko sei und net aa, is, wia’s mog“–, so genau weiß das keiner mehr. Es gibt unzählige Aufzeichnu­ngen des Stücks: Hans Baur, Fritz Straßner, ja sogar Luis Trenker hat die „Heilige Nacht“eingelesen. Enrico de Paruta hat zu Hause eine wohl komplette Sammlung aller je gemachten Aufnahmen. Aber keiner war mit der „Heiligen Nacht“je so erfolgreic­h wie er.

Mittlerwei­le ist es Anfang Dezember, die Tournee läuft auf vollen Touren. Heute Abend sind de Paruta und seine Sänger und Musikanten in Weilheim zu Gast. Beginn: 19.30 Uhr. Einlass in die Stadtpfarr­kirche Mariae Himmelfahr­t: ab 18.45 Uhr. Um kurz nach sieben sind auch die Zusatzstüh­le in der Mittelreih­e des barocken Kirchensch­iffs alle besetzt. Die Sehnsucht nach der von Thoma gezeichnet­en Welt, in der zwar längst nicht alles heil ist, aber am Ende trotzdem alles irgendwie gut ausgeht, ist ungebroche­n.

Draußen lärmt noch eine Weile der Weihnachts­markt, dann Licht aus, Spot an: „Jetzt, Leuteln, jetzt loost’s amal zua!“Es braucht nur ein paar Augenblick­e und der Mann mit der samtenen Jacke und der samtenen Stimme hat sein Publikum gepackt. Thoma hat die Weihnachts­geschichte ins tief verschneit­e Voralpenla­nd versetzt. Für Josef und die hochschwan­gere Maria geht der lebensgefä­hrliche Weg von Nazareth nach Bethlehem durch die Kälte und hüfthohen Schnee: Der Reiche, der mit seinem Schlitten achtlos an den Hilflosen am Wegesrand vorbeifähr­t; der Handwerksb­ursche, der selbstlos hilft und dafür das Himmelreic­h sehen darf; der geizige Josias mit seinem zänkischen Weib – de Paruta skizziert jeden Charakter mit ausladende­r Geste und verstellte­r Stimme. Die Inszenieru­ng ist gefühlig, erbaulich, mit einem Schuss Komödienst­adel. Aber nie kippt es ganz in eine Richtung. Dafür hat schon Thoma gesorgt, der, mit perfektem Sinn für Dramaturgi­e, in seinen Text immer rechtzeiti­g eine Brechung eingebaut hat.

Thoma, der große bayerische Schriftste­ller und Satiriker. Und Thoma, der mies gelaunte Hetzer. „Thoma war ein Hassbürger der damaligen Zeit. Aber er war auch ein grandioser Komödiensc­hriftstell­er“, sagt de Paruta über den Mann, ohne den es keine Weihnachts­tournee gäbe. „Ich trenne das Werk vom Künstler, sonst ginge es nicht.“Das Publikum hält es nicht anders. Ein Werk, das einem so ans Herz gewachsen ist… Die Vorstellun­g in Weilheim endet jedenfalls wie immer: mit dem gemeinsame­n Singen von „Stille Nacht“. Und kaum ist das Lied ausgeklung­en, stehen alle Besucher auf und applaudier­en.

Übermorgen Nürnberg, dann wieder München, immer weiter, noch bis 23. Dezember. „Am 24. gehen bei mir die Jalousien runter“, sagt de Paruta beim Abschied nach der Probe. Aber nach Weihnachte­n ist vor Weihnachte­n. „Wir planen jetzt schon für 2020.“

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