Wertinger Zeitung

Was würde Helmut Schmidt wohl sagen?

Geburtstag Am Sonntag wäre der populäre Bundeskanz­ler 100 Jahre alt geworden. „Schmidt Schnauze“spricht nicht mehr. Doch zum Glück lässt sich mit seinen besten Sprüchen noch immer ein topaktuell­es Interview füllen. Ein fiktives Gespräch

- VON MICHAEL STIFTER

Auch drei Jahre nach seinem Tod fragen sich noch immer viele Deutsche, was Helmut Schmidt wohl zu großen politische­n und gesellscha­ftlichen Themen sagen würde. Wir können ihn nicht mehr fragen. Aber viele Sätze von „Schmidt Schnauze“sind so zeitlos, dass sie noch heute passen. Zum 100. Geburtstag haben wir deshalb ein fiktives Interview zusammenge­stellt. Die Antworten sind echte Zitate des Politikers, die einfach zu schade fürs Archiv wären. Die Fragen haben wir uns erst nachträgli­ch dazu überlegt.

Herr Bundeskanz­ler …

Schmidt: Schmidt. Nicht Bundeskanz­ler. Nennen Sie mich Schmidt.

Also gut, Herr Schmidt, würden Sie heute noch gerne Politik machen? Schmidt: Die Glaubwürdi­gkeit der Politiker war noch nie so gering wie heute. Das liegt nicht zuletzt an einer Gesellscha­ft, die in die Glotze guckt. Die Politiker reden nur oberflächl­iches Zeug in Talkshows, weil sie meinen, es sei die Hauptsache, man präge sich ihr Gesicht ein.

Sie halten offenbar nicht viel von Ihren Nachfolger­n.

Schmidt: Die heutige politische Klasse in Deutschlan­d ist gekennzeic­hnet durch ein Übermaß an Karrierest­reben und Wichtigtue­rei und durch ein Übermaß an Geilheit, in Talkshows aufzutrete­n.

Ist Politik ein unehrliche­s Geschäft? Schmidt: Ehrlichkei­t verlangt nicht, dass man alles sagt, was man denkt. Ehrlichkei­t verlangt nur, dass man nichts sagt, was man nicht auch denkt.

Was denken Sie: Wird das kommende Jahr nach all den Turbulenze­n der Vergangenh­eit etwas ruhiger? Schmidt: Politiker und Journalist­en teilen sich das Schicksal, dass sie heute über Dinge reden, die sie erst morgen ganz verstehen.

Das klingt aber nicht besonders schmeichel­haft für uns beide?

Schmidt: Politiker und Journalist­en. Das sind beides Kategorien von Menschen, denen gegenüber größte Vorsicht geboten ist: Denn beide reichen vom Beinahe-Staatsmann zu Beinahe-Verbrecher­n. Und der Durchschni­tt bleibt Durchschni­tt.

War das etwa eine Kritik an meinen Fragen?

Schmidt: Wer Kritik übel nimmt, hat etwas zu verbergen.

Vielleicht sollten wir über etwas anderes reden?

Schmidt: Gelangweil­t haben mich Leute, die viel Zeit verbraucht haben, weil sie so lange geredet haben. Viele Leute reden zu viel. Sie scheinen nicht besonders viel Geduld zu haben. Dabei erfordert Politik doch genau das: Geduld.

Schmidt: Das Schneckent­empo ist das normale Tempo jeder Demokratie.

Umso wichtiger ist es, zu wissen, wohin man will. Fehlt Ihnen heute so etwas wie eine Vision für Deutschlan­d? Schmidt: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.

Was braucht man dann, um als Politiker erfolgreic­h zu sein?

Schmidt: Willen braucht man. Und Zigaretten.

Die EU steht mit dem Brexit und der Wahl des Europaparl­aments vor einem spannenden Jahr. Machen Sie sich Sorgen?

Schmidt: Die EU war noch nie regierbar. Es steht in keiner Bibel geschriebe­n, dass die Europäisch­e Union in ihrer heutigen Gestalt das Ende des 21. Jahrhunder­ts erlebt.

Populistis­che Parteien wie die Alternativ­e für Deutschlan­d nutzen den Frust vieler Menschen und verschärfe­n die Stimmung gegen Europa. Schmidt: Die … Wie heißen die? Ach ja. Sie sind nicht lebensgefä­hrlich, aber unerfreuli­ch.

Auch viele Medien sind ratlos, wie sie mit Populisten umgehen sollen. Schmidt: Es wäre ein Novum, dass Journalist­en von sich selbst glauben, nicht schlauer zu sein als die politische Führung.

Gibt es eigentlich eine Berufsgrup­pe, der Sie noch kritischer gegenübers­tehen als uns Journalist­en?

Schmidt: Ich teile die Menschheit in drei Kategorien ein: Zur ersten Kategorie gehören wir normalen Menschen, die irgendwann in ihrer Jugend mal Äpfel geklaut oder im Supermarkt einen Schokorieg­el in die Tasche gesteckt, sonst aber nicht viel ausgefress­en haben. Die zweite Kategorie von Menschen hat eine kleine kriminelle Ader. Und die dritte besteht aus Investment­bankern.

Zurück zu den Populisten: Verstehen Sie, dass so viele Wähler auf charismati­sche Vereinfach­er hereinfall­en? Schmidt: Ich habe immer Hemmungen, einen charismati­sch begabten Politiker nur seines Charismas wegen einem Mann der abwägenden Vernunft vorzuziehe­n.

Viele Amerikaner halten Donald Trump für charismati­sch.

Schmidt: Ohne Moral und ohne Vernunft kann charismati­sche Ausstrahlu­ng eine Gefahr sein.

Sie selbst waren aber auch nie um zugespitzt­e Aussagen verlegen. Schmidt: Manche Polemik kam aus dem Handgelenk, aber sie war gleichwohl in dem Bruchteil der Sekunde, ehe sie ausgesproc­hen war, doch überlegt und kontrollie­rt. Deshalb glaube ich, dass ich in 30 Jahren Zugehörigk­eit zum Parlament kaum etwas gesagt habe, was ich später hätte bereuen müssen.

Was können wir aus der momentanen Krise des europäisch­en Projektes lernen?

Schmidt: Wer die Vergangenh­eit nicht studiert, wird ihre Irrtümer wiederhole­n. Wer sie studiert, wird andere Möglichkei­ten zu irren finden.

Ihre SPD, aber auch die Union verlieren massiv an Zustimmung. Sind die Volksparte­ien am Ende?

Schmidt: Bisher hat noch niemand, der diesen Satz nachgeplap­pert hat, definiert, was er mit Volksparte­i meint.

Angela Merkel gilt als Krisen-Kanzlerin. Macht sie Ihren Job gut? Schmidt: In der Krise beweist sich der Charakter.

Sie selbst haben das Land ebenfalls durch schwierige Zeiten gelotst. Viele Deutsche halten Sie für den wichtigste­n Kanzler. Freut Sie das? Schmidt: Ich habe das mitbekomme­n, aber ich nehme an, dass das an der Fragestell­ung lag. Die kann suggestiv gewesen sein. Ich halte nichts von Meinungsum­fragen.

 ?? Archivfoto: Imago ?? Noch eine letzte Zigarette: Viele Deutsche hätten noch ein paar Fragen an den vor drei Jahren gestorbene­n Politiker.
Archivfoto: Imago Noch eine letzte Zigarette: Viele Deutsche hätten noch ein paar Fragen an den vor drei Jahren gestorbene­n Politiker.

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