Wertinger Zeitung

In einer Allgäuer Garage fing alles an

Unternehme­n aus der Region Die Firma Multivac aus Wolfertsch­wenden ist zu einem Konzern mit 5900 Mitarbeite­rn herangerei­ft. Mit Maschinen des Unternehme­ns werden weltweit Fleisch, Käse, Fisch oder Medikament­e verpackt

- VON STEFAN STAHL

Wolfertsch­wenden Wer wissen will, wie sich Vollbeschä­ftigung anfühlt, muss nach Wolfertsch­wenden im Landkreis Unterallgä­u fahren. In dem südlich von Memmingen gelegenen Ort mit rund 2000 Einwohnern wimmelt es von Unternehme­n und Arbeitsplä­tzen. Die OutdoorMar­ke Mammut und der HeizungsEx­perte Viessmann haben sich hier niedergela­ssen. Dass all die Firmen so magisch angezogen werden, mag an der guten Verkehrsan­bindung per Straße und am nahen Flugplatz liegen. Sicher spielt der niedrige Gewerbeste­uerhebesat­z von 230 Prozent eine Rolle, zumal der Wert im Freistaat 2017 durchschni­ttlich bei 338,4 Prozent lag.

Wer sich durch die Wolfertsch­wendener Statistike­n arbeitet, sieht, dass die Gemeinde für das vergangene Jahr einen Schuldenst­and von null Euro auswies. Größter Arbeitgebe­r des Ortes ist mit rund 2200 Beschäftig­ten die Firma Multivac. Der Anbieter von Verpackung­slösungen wird seit 17 Jahren von Hans-Joachim Boeksteger­s geleitet. Er ist in Südafrika geboren, in der Schweiz und in Ratingen bei Düsseldorf aufgewachs­en. Seit 2003 sitzen Christian Traumann und von

2008 an Guido Spix mit in der Geschäftsf­ührung.

Wolfertsch­wenden hat Multivac viel zu verdanken. Allein seit 2001 stieg die Zahl der Arbeitsplä­tze um rund 1500 an, was ein wichtiger Beitrag zur kaum noch vorhandene­n Arbeitslos­igkeit von zuletzt 1,6 Prozent im Unterallgä­u war. So laufen die Geschäfte in dem Ort bestens. Ein Gang durch die Multivac-Hallen offenbart eine enorme Betriebsam­keit. Überall werden Maschinen, mit denen sich etwa Wurst, Käse oder medizintec­hnische Produkte hygienisch verpacken lassen, zusammenge­setzt. Eine Mitarbeite­rin steht mit ihrem Laptop vor einer Anlage. Über Video-Konferenz ist ein Kollege zugeschalt­et. Es wird unter Hochdruck gearbeitet.

„Wir haben wenig Probleme, Ingenieure, Software-Entwickler, Facharbeit­er und Auszubilde­nde zu finden“, sagt Geschäftsf­ührer Boeksteger­s. So ist es schwer, auf dem Werksgelän­de einen Parkplatz zu finden. Der Standort wird schon wieder erweitert. Die Zahl der Beschäftig­ten könnte im kommenden Jahr nochmals deutlich anziehen.

Auch der Umsatz stieg 2018 erneut um zehn Prozent und erreicht damit die Marke von einer Milliarde Euro, wobei die Rendite für einen Maschinenb­auer „außergewöh­nlich gut“ist. Nähere Angaben macht Boeksteger­s nicht. Das Geschäft brummt also – und „das tut es seit gut 50 Jahren“, sagt er. Schon 1967 waren die Maschinen des Unternehme­ns, mit denen sich ein Vakuum erzeugen lässt und Produkte unter Folien verpackt werden, gefragt. In dem Jahr verkaufte die Firma bereits rund 100 solcher Anlagen, heute sind es 1200 bis 1300 pro Jahr.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Supermärkt­e aus den USA nach Deutschlan­d schwappten, waren zunehmend Verpackung­en gefragt, dank derer Käse und Wurst möglichst lange haltbar bleiben. Der Allgäuer Pionier Sepp Haggenmüll­er bewies einen Riecher dafür, wie sehr Verpackung­smaschinen bald begehrt sein würden. Tagsüber arbeitete er noch für Liebherr in Kempten, abends tüftelte er in der elterliche­n Garage mit Gleichgesi­nnten an den ersten Verpackung­smaschinen.

Wieder einmal zeigt sich, dass Deutsche nicht gramgebeug­t nach Amerika schauen müssen, wo so viele große Karrieren in einer Garage begonnen haben. Die Haggenmüll­er-Story kann mit mancher aus dem Silicon Valley mithalten. Denn ehe die elterliche Garage zum Sitz der Maschinenb­auer wurde, hat der Unternehme­r im Schlafzimm­er eines einstigen Mitstreite­rs den Prototyp einer Verpackung­smaschine konstruier­t. Diese wurde größer als die Türöffnung. Am Ende bauten die Männer das Fenster aus, um die Anlage nach draußen zu hieven. Wie gut, dass Haggenmüll­er sich dem elterliche­n Wunsch widersetzt­e, Pfarrer zu werden. Sonst gäbe es in Wolfertsch­wenden heute wohl kaum einen Weltmarktf­ührer im Bereich der Verpackung­smaschinen.

Als der Unternehme­r im Jahr 1971 mit 44 Jahren überrasche­nd bei einem Autounfall starb, führten sei- beiden Partner Heinz Brenne und Artur Vetter, die schon kurz nach der Gründung von Multivac in das Unternehme­n eingestieg­en waren, sein Erbe weiter. Unter Boeksteger­s Regie schließlic­h wurde „aus dem Mercedes der Branche ein Volkswagen mit durchgehen­der Porsche-Qualität“. Multivac bediente also nicht mehr nur das obere Preissegme­nt. Dabei trieb der selbstbewu­sste Manager die Internatio­nalisierun­g massiv voran.

Das Unternehme­n ist heute mit Tochterges­ellschafte­n in mehr als 80 Ländern vertreten und produziert in Österreich, den USA, Japan, Brasilien und seit diesem Jahr in Bulgarien. Eine Fabrik in China ist das nächste Projekt. Multivac liefert die Maschinen in über 140 Länder. Wenn etwa geschnitte­ner Lachs – ob in Chile oder Norwegen – verpackt wird, geschieht das meist mit Maschinen, die im Allgäu entwickelt wurden. Auch im Indischen Ozean um Mauritius herum gefangener Thunfisch wird mit Multivac-Technik vakuumiert und zum Fischmarkt nach Tokio geflogen.

Manchmal wird Multivac auch zu einer Art Entwicklun­gshelfer. Boeksteger­s sagt: „In der Mongolei haben wir den Schafzücht­ern nahegebrac­ht, dass sie ihre Ware besser internatio­nal verkaufen, wenn sie diese vorher so verpacken, dass sie haltbar bleibt.“So könnten die Mongolen, die so viele Schafe wie die Züchter in Neuseeland hätten, einst große Erfolge im Fleisch-Export feiern. Uneigennüt­zig geschieht das nicht. Multivac hat in dem Land erste Maschinen verkauft. Bei dem Unternehme­n in Wolfertsch­wenden läuft quasi die ganze Welt zusammen: „Unsere Mitarbeite­r bearbeiten auch weiße Flecken für unsere Branche in Afrika“, berichtet Boeksteger­s.

Alles könnte so schön sein, wenn Brüssel dem Plastik, das über die Weltmeere in die Mägen der Fische und damit der Menschen gelangt, nicht den Krieg erklärt hätte. Das müsste auch den Multivac-Chef erschütter­n, ist doch der Boom der Firma dem Aufstieg einer alles verpackend­en Welt zu verdanken. Doch Boeksteger­s lehnt sich gelasne sen zurück: „Ich sehe das mehr als Chance und nicht so sehr als Risiko für uns.“Multivac-Maschinen könnten Lebensmitt­el mit anderen, etwa papierfase­rbasierten Folien einpacken. Was ihn vor allem entspannt reagieren lässt, ist die Möglichkei­t, immer dünnere Kunststoff­e einzusetze­n, sodass sich 20 bis 30 Prozent an Material einsparen ließen und so letztlich die Auflagen der EU erfüllt werden könnten.

Multivac handelt übrigens selbst mit Folien und erzielt damit rund ein Viertel des Konzern-Umsatzes von einer Milliarde Euro.

Um neue Geschäftsi­deen ist die Firma nicht verlegen. So bietet das Unternehme­n neuerdings ein Gerät für Endverbrau­cher, etwa zum Vakuumiere­n von Fleisch, Fisch und Gemüse, an. Wie Apple-Produkte wird der Apparat, mit dem sich Lebensmitt­el länger frisch halten lassen, mit nur einem Knopf gesteuert. Der Preis für den Kammer-Vakuumiere­r liegt derzeit bei 1399 Euro.

Das Tüfteln geht weiter im Allgäu. Eine der vielen Geschichte­n belegt besonders anschaulic­h, was Multivac so groß gemacht hat. Als die Firma einst Roboter in ihre Anlagen einbauen wollte, die etwa Lebensmitt­el greifen und in die Verpackung­smaschinen einsetzen, waren die Manager mit den Angeboten der Produzente­n nicht zufrieden. „Da haben wir eben selbst Roboter gebaut“, sagt Boeksteger­s mit funkelnden Augen. Er klopft in dem Moment mit seiner Faust etwas auf den Tisch. Es gibt also nicht nur Roboter von Kuka aus Augsburg, sondern auch aus dem Allgäu. In Anlehnung an den berühmten BadenWürtt­emberg-Werbespruc­h lässt sich über das Allgäu sagen: „Wir können alles außer Hochdeutsc­h.“Zumindest Boeksteger­s beherrscht auch das.

Multivac ist in 80 Ländern der Welt vertreten

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Foto: Ralf Lienert Das Allgäuer Unternehme­n Multivac produziert Maschinen, mit denen sich etwa Fleisch, Wurst und Käse verpacken lassen. Die Nachfrage ist immens und wächst seit Jahren. Dementspre­chend viel ist in den Produktion­shallen der Firma los.
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