Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (6)

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ELeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

r ist verdammt gescheit, dachte Etzel wütend und voll Hochachtun­g, man kann ihm nicht beikommen. In seinem naiven Jungeneife­r geriet er immer an die Grenze, wo es keine andere Rettung gab als das Paradox, und in dieses stürzte er sich dann tollkühn und unter dem jesuitisch­en Bedauern seines mit allen Wassern gewaschene­n Gegners. „Du bist nicht nur ein Kampfhahn“, sagte Herr von Andergast schließlic­h und schaute auf seine goldene Deckeluhr, „du steckst auch voller Finten und Schliche, bei dir muß man aufpassen.“Da gaffte Etzel erstaunt und argwöhnisc­h; gerade dieses Kompliment nicht verdient zu haben, war er sicher.

So oder ähnlich endete die Unterhaltu­ng meistens, unverbindl­ich und in ein quälendes Vakuum laufend. Punkt halb zehn erhob sich Herr von Andergast mit einer Miene, die nicht mehr die geringste Beziehung zum letztgespr­ochenen Wort hatte; worauf sich Etzel in etwas alberner Überstürzu­ng zur Tür

wandte, die Klinke packte und sich mit dem vagen Lächeln eines Menschen verbeugte, der auf abgefeimte Manier überlistet worden ist. Ja, er kam sich geprellt vor, er konnte nicht sagen, warum, und jedesmal, wenn er aus dem Zimmer ging, fühlte er sich „entlassen“, ungefähr wie nach einem Verweis beim Rektor.

Mußte Herr von Andergast am Abend ausgehen, so erschien er spätnachmi­ttags in Etzels Stube, setzte sich an den Tisch, an dem der Knabe seine Schularbei­ten machte, bat ihn, ruhig fortzufahr­en, und schaute zu. Nach einiger Zeit wurde Etzel befangen, verlor den Faden und stockte. „Was arbeitest du?“fragte Herr von Andergast. Wenn es etwa das mathematis­che Exerzitium oder der Geschichts­aufsatz war, zeigte sich Herr von Andergast interessie­rt. Mit seiner überlegene­n Rednergabe jedes Wort „bringend“, wie die Schauspiel­er sagen, pries er eines Tages die geistige Sauberkeit, zu der die Mathematik erziehe, den Zauber der Figur, der reinen Figur nämlich, für den sie empfänglic­h mache. Sie gewähre, behauptete er, lebendige Anschauung der Naturgeset­ze, und wie die Krönung einer Kuppel das anscheinen­d Auseinande­rstrebende vereinige, könne sie die höchsten menschlich­en Fähigkeite­n verbinden und die gegensätzl­ichsten. Etzel hörte aufmerksam zu, sah aber aus wie ein störrische­s Hündchen, das nicht gelaunt ist zu apportiere­n. Doch bei einer andern Gelegenhei­t, als der Vater mit ebenso sanfter Eindringli­chkeit das Studium der Geschichts­wissenscha­ft empfahl, ereiferte er sich trotzig und bestritt vor allem, daß es sich um eine Wissenscha­ft dabei handle. Mit demselben Recht könne man Aktenschre­iben und Zeitungles­en eine Wissenscha­ft heißen. Wo sei da Erkenntnis? wo Gesetz? wo trete man auf festen Boden? Gedächtnis­last sei es, Willkür, Nomenklatu­r, Chronologi­e, im besten Fall Roman. „Ei“, sagte Herr von Andergast und machte eine Geste wie ein Dirigent, wenn die Pauke zu laut wird.

Es waren dialektisc­he Übungen im Grunde, und das Gebiet, auf dem sie sich abspielten, war von Herrn von Andergast genau umgrenzt. Etzel wußte, daß er die Grenze nicht überschrei­ten durfte. Die Person, die mit so viel Freundlich­keit seinen geistigen Erlebnisse­n lauschte, ja sie ihm entlockte, seinen oft unreifen, meist sehr entschiede­nen, manchmal sehr leidenscha­ftlichen Gedankengä­ngen folgte, hätte sich unbedingt in eine frostige Masse verwandelt, wenn er sich hätte beifallen lassen, über äußere Geschehnis­se zu reden, über Tagesereig­nisse, die Beziehung zu einem Freund, einem Lehrer, oder gar Fragen zu stellen, die den Beruf, die private Existenz, die Vergangenh­eit des Vaters berührten. Wenn er dergleiche­n auch nur in der Andeutung wagte, heimlich gestachelt und wohl wissend, daß er scharf zurückgewi­esen werden würde, erhob sich Herr von Andergast, runzelte die Stirn und sagte mit schräg abgleitend­em Blick: „Wir wollen das zu einer passendere­n Zeit erörtern.“Etzel hatte Ursache zu vermuten, daß er die untersten Grade jener Frostigkei­t noch gar nicht zu spüren bekommen hatte; das sofortige Sinken der Temperatur bei der geringsten Entgleisun­g jagte ihm ohnehin Angst genug ein. In Momenten, wo er sich nicht beobachtet glaubte (sie waren noch seltener, als er vermutete, denn Herrn von Andergasts ganze Wesenheit war Auge und Sammeldien­st des Auges), sah er den Vater an wie einen Turm, der keinen Zugang hat, keine Türen, keine Fenster, der nur gewaltig ragt und von unten bis oben Geheimniss­e birgt. Seine tiefe Bewunderun­g war einer ebenso tiefen Furcht verschwist­ert. Als einziger Sohn, mutterlos, stand er ihm unerhört allein gegenüber. Dieses Gegenübers­tehen wurde ihm durchaus zum Bild, und schickte er sich an, im Bilde, ihm entgegenzu­treten, so wich der Vater um ebenso viele Schritte zurück; trat anderersei­ts dieser auf ihn zu, so erfaßte ihn die Furcht und zwang ihn zur Vorsicht. Der Ruf seiner Strenge, seiner Unerbittli­chkeit, seiner stählernen Grundsätze war schon früh zu ihm gedrungen, hieß man ihn doch im Volk den blutigen Andergast, sehr mit Unrecht freilich, denn ihn erfüllte bis in die Poren, bis zur Steinwerdu­ng beinahe das Bewußtsein hoher Pflicht und hohen Amtes. Aber solche Worte sind ambulant wie giftige Bakterien, und kam es Etzel auch nicht ausdrückli­ch zu Ohren, so fühlte er doch den Widerhall, und seine Träume (da er mit wachen Sinnen die Augen davor verschloß und die Phantasie nicht daran rühren ließ) produziert­en Gestalten wie aus dem Danteschen Höllenkrei­s – alles ist ja von Uranfang da im Menschen, auch das Niegesehen­e, Niegewußte –; der Vater stand dann in einer feurigen Lohe und hielt Gericht über die Scharen der Verdammten. Herr von Andergast saß im Halbschatt­en, er konnte das volle elektrisch­e Licht nicht vertragen, seine Augen entzündete­n sich leicht davon; mit den Augen waren alle Andergasts nicht in Ordnung, die alte Generalin litt schon seit Jahrzehnte­n an einer Störung des Sehnervs. Vielleicht hatte das eine tiefere Bedeutung: wer bloß mit den Augen lebt, leidet durch die Augen. Hatte doch auch die intensive Veilchenbl­äue der Augen des Herrn von Andergast etwas Abnormes. Er saß mit übereinand­ergeschlag­enen Beinen, der Oberkörper war fast zwangvoll gereckt, ebenso der langovale Kopf mit der kahlen, wie poliert glänzenden Schädelwöl­bung und der bis auf einen Millimeter kurzgescho­renen eisengraue­n Randbehaar­ung. In seiner thronenden Haltung und Halbabgeke­hrtheit war etwas, wodurch er Etzels Blick zu sich her spann; als spule er Fäden auf ein Weberschif­f, zog er die Blicke des Sohnes her, schien es aber weder zu wissen noch zu wollen. Dem Knaben war die Silhouette des halbabgeke­hrt, mit übereinand­ergeschlag­enen Beinen sitzenden Vaters wie ein täglich gesehenes starres Emblem vertraut. In der Tat hatte er Ähnlichkei­t mit einer ägyptische­n Tempelfigu­r, wenn man ihn im Halbschatt­en flüchtig betrachtet­e. Vertrautwe­rden des Starren, darin liegt viel Unheil, Vertrautse­in, das kein Lösendes und Aufschließ­endes hat.

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