Wertinger Zeitung

Rinaldo und Frau Holle

- HISTORISCH­E STREIFZÜGE MIT RAINER BONHORST

Seinen größten Erfolg hatte Christian August Vulpius mit dem Roman „Rinaldo Rinaldini, der Räuberhaup­tmann“. Als das Werk 1798 erschien, wurde es in kürzester Zeit zum Bestseller. Da staunte sogar der Schwager des Autors, ein gewisser Johann Wolfgang Goethe. Der hatte mit seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“einen Riesenerfo­lg beim gehobenen Publikum gelandet. Christian August Vulpius schrieb in dem weniger gehobenen, aber hoch begehrten Fach der Triviallit­eratur. Mit anderen Worten: Sein „Räuberhaup­tmann“war eine Räuberpist­ole. Nicht seine letzte.

Schwager Goethe war nicht pingelig und stand dem schreibend­en Bruder seiner Frau Christiane, einer geborenen Vulpius, mit Rat und Tat zur Seite. Und Vulpius schrieb heftig weiter. Einer seiner Romane passte wunderbar in die düstere Zeit „zwischen den Jahren“. Ob man nun die längste Nacht zum Ausgangspu­nkt nimmt, oder den etwas später gelegenen Weihnachts­tag: Bis zum 6. Januar ging es in der Folklore schon immer drunter und drüber.

Wohin man schaute, eine wilde Jagd – ob sie nachts durch Europas Wälder sauste oder im fliegenden

Kanu die Indianer Nordamerik­as heimsuchte. Ein Heer verstorben­er Seelen brauste durch die nur langsam kürzer werdenden Nächte und versetzte die Menschen in Furcht und Schrecken.

Wenn das kein Stoff für einen Trivial-Schriftste­ller wie Christian August Vulpius war! War es auch. Vulpius entzückte sein Publikum mit dem Roman „Frau Holda Waldina, die wilde Jägerin“. Und wer eilte in dem Roman durch Nacht und Wind, um – vergebens – einen edlen Ritter namens Adelbert zu verführen? Holda, die Anführerin dieser wilden, verwegenen Jagd, war keine andere als Frau Holle, die in einem anderem Zusammenha­ng größere Bekannthei­t erlangt hat. Frau Holle gehörte, ehe die Gebrüder Grimm sie im Märchen wiederbele­bt haben, seit Urzeiten zu den Sagengesta­lten, die in den düsteren Raunächten ihre Auftritte hatten. Altertumsf­orscher sehen in ihr sogar eine frühzeitli­che Muttergött­in. Goethes Schwager Vulpius ließ sie als Chef-Amazone eines schrecklic­hen Heeres durch die dunklen Nächte zwischen Weihnachte­n und Neujahr brausen. Die Schauerges­chichte war wie geschaffen für Winteraben­de am Kamin, auch wenn sein zeitloser Räuberhaup­tmann Rinaldo mehr Leser fand als seine Holda alias Frau Holle.

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