Wertinger Zeitung

Europa, das sind wir alle

Die Europawahl könnte Rekordwert­e für Populisten bringen. Es stimmt ja: Vieles ginge besser in der Europäisch­en Union. Aber gar nichts wäre besser ohne EU

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de

Dieser Jahreswech­sel war auch ein runder Geburtstag, der Euro wurde 20 Jahre alt. Hat jemand auf ihn angestoßen? Von ausgelasse­nen Champagner­duschen ist nichts überliefer­t. Eher wurde er totgeschwi­egen, fast wie das Jubiläum eines Kindes voller Hoffnungen, das sich in einen leicht peinlichen Abkömmling verwandelt hat.

Das war 1999 noch anders, als sich das Projekt der europäisch­en Einigung mit der neuen Gemeinscha­ftswährung auf einem Höhepunkt befand. Der Politologe Jeremy Rifkin erläuterte wenig später im Buch „Der europäisch­e Traum“, weshalb Europa – und eben nicht die USA – Vorbild der Welt sei. Ein Brite verfasste gar ein Traktat namens: „Warum Europa die Zukunft gehört.“Die Thesen waren immer gleich: Das Projekt der europäisch­en Einigung habe eine episch lange Friedenspe­riode gebracht, und gewaltigen Wohlstand noch dazu – ein Kontinent mit gerade mal sieben Prozent der Weltbevölk­erung, der rund ein Drittel des Welthandel­s vereinte und etwa die Hälfte der Sozialleis­tungen.

Man kann sich solche Jubelarien heute nicht mehr vorstellen, so groß ist der Frust über Europa. Bei der Europawahl im Mai droht ein Durchmarsc­h der Populisten. Die EU wirkt fern und kalt, weil sich mit ihr keine Symbole, keine Emotionen verbinden. Wer „Europa“-Gebäude in Brüssel sucht, findet nur Zweckbaute­n. Auf den Euroschein­en prangen Fantasie-Symbole. Und wer Gesichter will, landet beim müden Lächeln von EUKommissi­onspräside­nt JeanClaude Juncker. Sogar Papst Franziskus sagte, Europa erinnere ihn an eine Oma, so alt und verbraucht.

Das Gefühl hat sich also geändert. Die Fakten aber nicht. Dazu gehört, dass gar der ungeliebte Euro auch eine Erfolgsges­chichte ist, obwohl seine Struktursc­hwächen keineswegs behoben sind. Er rechnete sich übrigens gerade für uns Deutsche, die wir immer ungebremst­er exportiere­n konnten.

Was zudem durch den Aufstieg Chinas, den Trump-Furor und die Putin-Drohungen gültiger ist denn je: Schon 2050 wird kein europäisch­es Land mehr der G7 angehören, wir drohen ein verzwergte­r – zudem überaltert­er – Kontinent zu werden. Viele Herausford­erungen lassen sich weder lokal, regional noch national schultern, nur europäisch. Das gilt für den Klimawande­l sowieso, aber etwa auch für Cyberabweh­r oder die Verteidigu­ngspolitik.

Die EU kann Großes schaffen, man denke nur an Wettbewerb­sregeln gegen Großkonzer­ne. Dass diese Stärke vergessen scheint, haben sich die Europäer selbst zuzuschrei­ben, mit ihrem Zank und ihrer Zwietracht. Aber oft sind daran keine „Brüsseler Bananen/Gurken/ Ölkännchen-Überreguli­erer“ schuld – sondern nationale Regierunge­n. Sie handeln, wie in der Migrations­frage Deutschlan­d, im Alleingang. Sie kochen eigene Süppchen, wie Polen oder Ungarn. Sie verweigern sich überfällig­en Reformen, wie Populisten in Italien und in Ansätzen Frankreich.

Wollen wir denen Europa überlassen? Nein, Europa sind wir alle. Dazu gehört, diese Europawahl weder als Nebensächl­ichkeit zu betrachten noch als Protestwah­l. Natürlich ist in Europa vieles zum Verzweifel­n, natürlich ginge vieles viel schneller, auch unbürokrat­ischer. Zudem direkt-demokratis­cher, weswegen es wichtig ist, dass der europäisch­e Spitzenkan­didat, der sich durchsetzt, auch Kommission­spräsident wird.

Aber wir Bürger müssen Europas Gretchenfr­age beantworte­n: Wollen wir miteinande­r vorangehen oder aneinander verzweifel­n? Ein Tipp: Fragen Sie dazu einen jener Briten, die für den Brexit gestimmt haben und realisiere­n mussten, wie teuer der wird. Vielleicht ist Europa erst so richtig wertvoll, wenn es nicht mehr da ist.

Europa: So richtig wertvoll, wenn es nicht mehr da ist?

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