Europa, das sind wir alle
Die Europawahl könnte Rekordwerte für Populisten bringen. Es stimmt ja: Vieles ginge besser in der Europäischen Union. Aber gar nichts wäre besser ohne EU
Dieser Jahreswechsel war auch ein runder Geburtstag, der Euro wurde 20 Jahre alt. Hat jemand auf ihn angestoßen? Von ausgelassenen Champagnerduschen ist nichts überliefert. Eher wurde er totgeschwiegen, fast wie das Jubiläum eines Kindes voller Hoffnungen, das sich in einen leicht peinlichen Abkömmling verwandelt hat.
Das war 1999 noch anders, als sich das Projekt der europäischen Einigung mit der neuen Gemeinschaftswährung auf einem Höhepunkt befand. Der Politologe Jeremy Rifkin erläuterte wenig später im Buch „Der europäische Traum“, weshalb Europa – und eben nicht die USA – Vorbild der Welt sei. Ein Brite verfasste gar ein Traktat namens: „Warum Europa die Zukunft gehört.“Die Thesen waren immer gleich: Das Projekt der europäischen Einigung habe eine episch lange Friedensperiode gebracht, und gewaltigen Wohlstand noch dazu – ein Kontinent mit gerade mal sieben Prozent der Weltbevölkerung, der rund ein Drittel des Welthandels vereinte und etwa die Hälfte der Sozialleistungen.
Man kann sich solche Jubelarien heute nicht mehr vorstellen, so groß ist der Frust über Europa. Bei der Europawahl im Mai droht ein Durchmarsch der Populisten. Die EU wirkt fern und kalt, weil sich mit ihr keine Symbole, keine Emotionen verbinden. Wer „Europa“-Gebäude in Brüssel sucht, findet nur Zweckbauten. Auf den Euroscheinen prangen Fantasie-Symbole. Und wer Gesichter will, landet beim müden Lächeln von EUKommissionspräsident JeanClaude Juncker. Sogar Papst Franziskus sagte, Europa erinnere ihn an eine Oma, so alt und verbraucht.
Das Gefühl hat sich also geändert. Die Fakten aber nicht. Dazu gehört, dass gar der ungeliebte Euro auch eine Erfolgsgeschichte ist, obwohl seine Strukturschwächen keineswegs behoben sind. Er rechnete sich übrigens gerade für uns Deutsche, die wir immer ungebremster exportieren konnten.
Was zudem durch den Aufstieg Chinas, den Trump-Furor und die Putin-Drohungen gültiger ist denn je: Schon 2050 wird kein europäisches Land mehr der G7 angehören, wir drohen ein verzwergter – zudem überalterter – Kontinent zu werden. Viele Herausforderungen lassen sich weder lokal, regional noch national schultern, nur europäisch. Das gilt für den Klimawandel sowieso, aber etwa auch für Cyberabwehr oder die Verteidigungspolitik.
Die EU kann Großes schaffen, man denke nur an Wettbewerbsregeln gegen Großkonzerne. Dass diese Stärke vergessen scheint, haben sich die Europäer selbst zuzuschreiben, mit ihrem Zank und ihrer Zwietracht. Aber oft sind daran keine „Brüsseler Bananen/Gurken/ Ölkännchen-Überregulierer“ schuld – sondern nationale Regierungen. Sie handeln, wie in der Migrationsfrage Deutschland, im Alleingang. Sie kochen eigene Süppchen, wie Polen oder Ungarn. Sie verweigern sich überfälligen Reformen, wie Populisten in Italien und in Ansätzen Frankreich.
Wollen wir denen Europa überlassen? Nein, Europa sind wir alle. Dazu gehört, diese Europawahl weder als Nebensächlichkeit zu betrachten noch als Protestwahl. Natürlich ist in Europa vieles zum Verzweifeln, natürlich ginge vieles viel schneller, auch unbürokratischer. Zudem direkt-demokratischer, weswegen es wichtig ist, dass der europäische Spitzenkandidat, der sich durchsetzt, auch Kommissionspräsident wird.
Aber wir Bürger müssen Europas Gretchenfrage beantworten: Wollen wir miteinander vorangehen oder aneinander verzweifeln? Ein Tipp: Fragen Sie dazu einen jener Briten, die für den Brexit gestimmt haben und realisieren mussten, wie teuer der wird. Vielleicht ist Europa erst so richtig wertvoll, wenn es nicht mehr da ist.
Europa: So richtig wertvoll, wenn es nicht mehr da ist?