Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (15)
SLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
ein eigenes Leben, es betrug kaum fünftausendneunhundert Tage, und wie lang kam es ihm vor, wie langsam floß es dahin, eine Woche war oft wie ein mühseliger Marsch auf der Landstraße, mancher Tag klebte wie Pech am Leib, man kriegte ihn nicht los, und das Gleichzeitige nun: während er schlief und las und zur Schule ging und seine Spiele trieb und mit Menschen redete und dies und jenes plante und es Winter war und Frühling war, die Sonne schien oder Regen fiel, der Abend kam, der Morgen kam, während alledem war auch Er dort mit derselben Zeit, in derselben Zeit, immer, immer, immer dort. Etzel war noch gar nicht geboren (unendlich geheimnisvolles Wort plötzlich: geboren!), da war er schon dort, jener, der erste Tag, der zweite Tag, der fünfhundertste Tag, der zweitausendzweihundertsiebenunddreißigste Tag: Etzel macht eine Gebärde, als schüttle er zwei eisern klammernde Hände von seiner Schulter ab, schaut zornig, ungeduldig,
wild um sich herum, ergreift das Lineal aus Ebenholz und fängt an zu „dirigieren“. Es ist eines von seinen Spielen. Als achtjähriger Junge schon hat er eine Vorliebe dafür gehabt, jetzt verfällt er nur noch selten darauf, nur wenn er einmal uneins mit sich ist und einer niederschlagenden Stimmung nicht Herr werden kann. Er betrachtet es als einen Atavismus, Rückkehr in infantile Betätigung und verfällt dann in einen Katzenjammer wie nach einer Sauferei. Das Dirigieren besteht darin, daß er aus voller Kehle eine selbstkomponierte, das heißt aus allen möglichen Melodienreminiszenzen zusammengestoppelte Symphonie brüllt, die Holzbläser, die Pauken, das Blech, die Kontrabässe nachahmt und dazu mit Feuer und Ergriffenheit das Lineal als Taktstock schwingt. Er ist das Orchester, er ist die Musik, er ist der Führer, und die tobende Begeisterung, in die er sich hineinsingt und -schreit, zieht endlich die Rie herbei, die ihn verdrießlich zur Ruhe mahnt, das läppische Wesen nicht fassen kann und ihn darauf aufmerksam macht, daß jeden Augenblick der Vater nach Hause kommen wird. Schweißbedeckt, mit hochrotem Kopf, das Lineal noch in der aufgehobenen Hand, starrt er sie an, als erkenne er sie nicht; dann sagt er unmutig und betreten: „Mach die Tür zu, Rie, der Flur ist voll Zwiebelgeruch, da wird mir schlecht.“
Am andern Nachmittag, gegen vier Uhr, es war ein Mittwoch, erschien er unerwartet in der Thielemannschen Wohnung. Er ließ sich in Roberts Stube weisen, und plötzlich stand er vor dem verdutzten Freund, der ihn nicht einmal zur Tür hatte hereinkommen hören. Es war gut, daß Robert bei seinen Schularbeiten saß; für diese Zeit war ihm das Zimmer allein überlassen, ein unbehaglich großer fünfeckiger Raum, dessen zwei Fenster auf den engen Hof gingen und der infolgedessen so finster war, daß man schon am Nachmittag Licht anzünden mußte. Thielemann brauchte eine Weile, um seiner Verblüffung Herr zu werden; da Etzel noch nie bei ihm gewesen war, ergab sich eine neue Situation, abgesehen davon, daß er Ursache hatte, Etzel wegen seines unerklärlichen Benehmens in der letzten Zeit zu zürnen. Dazu kam, daß heute eine gewittrige Luft im Hause herrschte; Robert wußte selbst nicht recht, was eigentlich vorging; bei Tisch waren die Eltern in eisigem Schweigen gesessen, keiner der drei Brüder hatte den Mund aufzutun gewagt, mit dem letzten Bissen war Herr Thielemann aufgestanden und fortgegangen, die Frau hatte sich in ihr Zimmer begeben, ohne die Söhne eines Blicks zu würdigen, vor einer halben Stunde war der Vater wiedergekommen, gegen seine sonstige Gepflogenheit, er spielte gewöhnlich bis halb fünf Uhr im Kaffeehaus Billard und ging dann ins Geschäft. Er befand sich im Wohnzimmer; bisweilen verließ er es, schritt über den Korridor und schmiß krachend eine Tür zu, dann war es wieder ruhig; doch Robert traute der Ruhe nicht, er wußte, daß der Sturm jeden Augenblick losbrechen konnte. Fatal, daß Andergast gerade an einem solchen Tag kommen mußte, es gab auch bessere Tage, wo man nicht so auf heißen Kohlen saß. Er konnte kein Wort hervorbringen, verlegen suchte er nach dem Löschblatt und steckte den Federhalter hinters Ohr, eine Gewohnheit, die Etzel verhaßt war, weil sie ihn einem Kommis in einem Schnittwarenladen ähnlich machte, das hatte er ihm oft gesagt. Aber Robert hatte nicht die Absicht, Etzel zu gefallen. Es sollte nicht so sein, wie wenn nichts gewesen wäre. Er zwinkerte mit den Augen und schaute beflissen in die brennende elektrische Birne, die nackt und schirmlos am Kabel von der Decke hing. Was er dabei, mittels einiger scheuer Seitenblicke, von Etzel wahrnahm, stimmte ihn wieder versöhnlich. Weiß der Teufel, wie der Knirps das anfängt, dachte er, kaum ist er da, vergißt man, daß man was gegen ihn hat. „Ist was passiert?“fragte er, indem er den Blick durch die Stube wandern ließ, als wolle er sich vergewissern, ob der Raum nicht einen gar zu abstoßenden Eindruck machte und der Kontrast zu Etzels gemütlicher Stube für diesen nicht so fühlbar war wie für ihn selbst. „Ist was passiert?“wiederholte er, „du siehst für deine Verhältnisse so struppig aus…“Schon trat die unwillkürlich rücksichtnehmende Zärtlichkeit in seiner Stimme hervor, er nahm es zu seinem eigenen Verdruß wahr, die seine Beziehung zu Etzel von der zu jedem andern Kameraden unterschied.
Etzel holte Atem. „Ich bin schnell gegangen“, sagte er und setzte sich etwas schüchtern Robert gegenüber an den Tisch. „Ich wollte eine Sache mit dir besprechen. Das heißt, wenn du Zeit hast. Nicht viel, ich hab auch nicht viel, um fünf soll ich zu Haus sein. Nur… es ist eine verdammt heikle Sache… du mußt schweigen können, Thielemann. Hier hört uns doch niemand, wie?“Er sah sich forschend um. Seine Lippenwinkel zuckten wie bei einem Kind, dem man sein Spielzeug zerbrochen hat und das seitdem die Feindseligkeit der Welt erkannt zu haben glaubt. Es war immer so bei ihm, welches auch seine Erlebnisse sein mochten, und so gereift und entschlossen er sich auch dazu stellte, etwas in seinem Wesen wirkte achtjährig.
„Leg nur los“, sagte Robert, unsicherer, als er sich zeigen wollte, „Lauscher gibt’s hier keine.“
Etzel, die flachen Hände zwischen die Knie gepreßt, dachte mit zusammengezogenen Brauen nach. Er wußte nicht, wie er beginnen sollte. Er beugte sich vor, und seine unfertige, nur in der Mittellage bereits männlich klingende Stimme möglichst dämpfend, sagte er, im allgemeinen sei es ihm zuwider, wenn Jungens über ihre häuslichen Angelegenheiten schwatzten, es sei die Art der Mädels. Aber da er momentan in einer verzwickten Lage sei und keinen näheren Freund habe als Thielemann, habe er den Plan gefaßt, sich an ihn zu wenden. Eigentlich wolle er nur Antwort auf eine Gewissensfrage haben. Es gelte nicht, etwas zu bedenken und lang und breit zu bequatschen, Thielemann solle nur nein oder ja sagen, ganz aus seinem Instinkt heraus. Es handle sich um seine Mutter.
16. Fortsetzung folgt