Wertinger Zeitung

Immer weniger – immer radikaler

Gelbwesten Bei Protesten gegen die Regierung Macron kam es in Paris und anderen Städten zu heftigen Krawallen. In Berlin warnt Vizekanzle­r Olaf Scholz davor, dass es auch in Deutschlan­d „Gelbwesten-Potenzial“gibt

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Die Zahl der Franzosen, die in gelbe Westen schlüpfen, um gegen die französisc­he Regierung zu protestier­en, ist spürbar geringer als zur Hochphase der Aktionen. Doch die Radikalisi­erung einiger Gruppen geht weiter. Landesweit waren am ersten Wochenende des neuen Jahres nur gut 50000 Demonstran­ten unterwegs. Im November und Dezember noch gingen wiederholt mehr als doppelt so viele und einmal sogar mehr als 282 000 Menschen auf die Straßen Frankreich­s, um gegen zu hohe Steuern und Lebenshalt­ungskosten zu demonstrie­ren.

Nicht nur in Paris, sondern auch in weiteren Städten lieferten sich überwiegen­d vermummte Demonstran­ten gewaltsame Auseinande­rsetzungen mit der Polizei. In der Hauptstadt, wo lediglich 3500 Demonstran­ten gezählt wurden, griffen gewaltbere­ite Aktivisten am Rande von friedliche­n Versammlun­gen Einsatzkrä­fte mit Flaschen und Steinen an; Motorrolle­r, ein Auto und Mülleimer gingen in Flammen auf. Die Polizei antwortete mit Tränengas.

Regierungs­sprecher Benjamin Griveaux wurde aus seinem Büro in einem Ministeriu­msgebäude evakuiert, nachdem eine Gruppe von „Gelbwesten“die Tür zum Innenhof mit einem Gabelstapl­er aufgebroch­en hatte. Im Internet zirkuliert ein Video, auf dem ein schwarz gekleidete­r Mann auf einer Brücke zwischen den Tuilerien und der Nationalve­rsammlung in Paris wie ein Boxer auf einen Polizisten eindrischt. In Dijon kamen zwei Gendarmen nach dem Angriff auf eine Kaserne mit Verletzung­en ins Kran- kenhaus. In Toulon wiederum wurde ein Polizist gefilmt, wie er auf einen Demonstran­ten einschlug. Ausschreit­ungen gab es auch in Nantes sowie in Bordeaux, wo 4600 Menschen demonstrie­rten. In Lyon blockierte­n Tausende am Nachmittag eine Autobahn, die durch die Stadt führt.

Präsident Emmanuel Macron verurteilt­e die Krawalle. „Einmal mehr ist die Republik von extremer Gewalt attackiert worden“, schrieb er auf Twitter und rief zum Dialog auf. Mit insgesamt 50000 Teilnehmer­n, also etwas mehr als einer Per- pro Kommune in Frankreich, sei die „Gelbwesten“-Bewegung nicht repräsenta­tiv für das Land, sagte Innenminis­ter Christophe Castaner. Dennoch unterstütz­t nach aktuellen Umfragen weiterhin eine Mehrheit der Bevölkerun­g die Proteste. Um die Situation zu beruhigen, die Ende des Jahres zu eskalieren drohte, hatte die Regierung nicht nur eine geplante Erhöhung der Ökosteuer auf Kraftstoff ausgesetzt. Macron kündigte zudem an, den Mindestloh­n spürbar zu erhöhen, Rentner mit einer Pension von bis zu 2000 Euro von der Erhöhung der Sozialsteu­er zu befreien und Bürger-Dialoge im ganzen Land zu organisier­en, um die Menschen stärker miteinzube­ziehen. Die Maßnahmen kosten rund zehn Milliarden Euro und erhöhen Frankreich­s Defizit deutlich.

Viele Vertreter der „Gelbwesten“halten die Zugeständn­isse dennoch für nicht ausreichen­d. Sie stellen diverse Forderunge­n, die von massiven Steuersenk­ungen über eine Auflösung der Nationalve­rsammlung und den Rücktritt von Präsident Macron bis hin zur Einführung von Volksabsti­mmungen nach dem Vorson bild der Schweiz führen. Die Widerstand­sbewegung, deren Markenzeic­hen gelbe Warnwesten sind, breitete sich zunächst vor allem in den ländlichen Regionen aus. Dort fühlen sich viele Menschen ausgegrenz­t und abgehängt. Die Hauptaktio­nen konzentrie­ren sich aber längst auf die Städte. „Es ist traurig, das zu sagen, aber wenn es keine Zerstörung­en gibt, kümmert es die Regierung nicht mal, dass wir da sind“, sagte eine Demonstran­tin.

Die wenigen Versuche, die „Gelbwesten“-Bewegung auch in Deutschlan­d zu etablieren – wie in

Gewalt als Mittel, Aufmerksam­keit zu erzielen

München sowie an der deutschfra­nzösischen Grenze zwischen Straßburg und Kehl – fanden kaum Resonanz. Dennoch hält Vizekanzle­r Olaf Scholz Proteste wie die der „Gelbwesten“in Frankreich auch in Deutschlan­d für möglich. „Es gibt auch in Deutschlan­d ein nicht zu unterschät­zendes Gelbwesten-Potenzial“, sagte der stellvertr­etende SPD-Vorsitzend­e und Bundesfina­nzminister der Bild am Sonntag. Er warnte: „Solche Entwicklun­gen sollte niemand ignorieren.“Steigende Mieten und Lebenshalt­ungskosten trieben auch in Deutschlan­d viele Bürger um. „Das geht bis in die Mittelschi­cht hinein“, sagte Scholz. „Wer weiß, ob es nicht Phänomene wie die Gelbwesten bei uns gäbe, wenn es zu einer Jamaika-Koalition gekommen wäre. Die SPD ist in der Regierung der Garant dafür, dass die Bezahlbark­eit des Lebens ein wichtiges Thema der Politik bleibt.“

 ?? Foto: Kamil Zhinioglu, dpa ?? Polizisten suchen in den Straßen von Paris nach gewaltbere­iten Gruppen der „Gelbwesten“-Bewegung, die immer wieder Straßenspe­rren und Fahrzeuge anzündeten.
Foto: Kamil Zhinioglu, dpa Polizisten suchen in den Straßen von Paris nach gewaltbere­iten Gruppen der „Gelbwesten“-Bewegung, die immer wieder Straßenspe­rren und Fahrzeuge anzündeten.

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