Wertinger Zeitung

Schwebezus­tand

Natur Das Volksbegeh­ren „Rettet die Bienen“soll das dramatisch­e Insektenst­erben aufhalten. Ob es tatsächlic­h ein Erfolg wird, hängt nun von Bayerns Bürgern ab

- VON STEPHANIE SARTOR

Augsburg Auf der großen bayerische­n Politik-Bühne ist sie nur ein Nebendarst­eller, ein Komaparse, ein Statist. Eben jemand, der eigentlich keine großen Auftritte hinlegt. Jemand, der im Schatten der Protagonis­ten steht und eher selten im Scheinwerf­erlicht. Doch plötzlich ist alles anders. Plötzlich blicken viele Menschen auf die winzige ÖDP, die bei der Landtagswa­hl im Oktober gerade einmal auf 1,6 Prozent kam.

Der Grund dafür ist dieser: Die Kleinstpar­tei hat es sich zum Ziel gesetzt, das Insektenst­erben in Bayern zu stoppen. Bisher mit beachtlich­em Erfolg. Die erste wichtige Hürde hat die Öko-Partei im vergangene­n Herbst genommen, als das Volksbegeh­ren „Artenvielf­alt – Rettet die Bienen“, das die Partei gestartet hatte, zugelassen wurde. Fast 100 000 Unterschri­ften von Unterstütz­ern waren zusammenge­kommen – etwa viermal so viele wie nötig gewesen wären. Jetzt kommt die zweite Hürde. Von 31. Januar bis 13. Februar müssen sich zehn Prozent der Wahlberech­tigten in Bayern – etwa eine Million Menschen – in den Rathäusern für das Volksbegeh­ren eintragen. Gelingt das, wäre die bayerische Regierung tatsächlic­h zu konkreten Maßnah- men gegen das Artensterb­en verpflicht­et.

„Uns ist ein höchst wirksamer und rechtlich unangreifb­arer Gesetzentw­urf gelungen“, kündigt Agnes Becker, die Beauftragt­e des Volksbegeh­rens und stellvertr­etende Vorsitzend­e der ÖDP Bayern, in einer Pressemitt­eilung an. Die Kernforder­ungen des Volksbegeh­rens sind: Hecken, Bäume und kleine Gewässer sollen in der Landwirtsc­haft erhalten bleiben, blühende Randstreif­en sollen an allen Bächen und Gräben geschaffen werden, einzelne, lokale Lebensräum­e sollen zu Biotopverb­ünden ausgebaut werden, der Pestizidei­nsatz soll deutlich sinken und der Anteil der Bio-Betriebe in der Landwirtsc­haft soll stark gesteigert werden. Derzeit gibt es etwa zehn Prozent ökologisch bewirtscha­ftete Fläche, 2030 sollen es 30 Prozent sein.

„Das dramatisch­e Aussterben heimischer Tier- und Pflanzenar­ten darf uns nicht länger gleichgült­ig lassen“, sagt Ludwig Hartmann, der Fraktionsv­orsitzende des Bündnis 90/Die Grünen im bayerische­n Landtag. Neben der ÖDP gehören die Grünen, der Landesbund für Vogelschut­z und der Bund Naturschut­z zum Trägerkrei­ses des Volksbegeh­rens. Viel zu lange habe die Regierung nur zugeschaut, findet Hartmann. Vor zehn Jahren habe man sich das hehre Ziel gesetzt, die Anzahl der Arten auf der Roten Liste zu halbieren – genau das Gegenteil sei aber eingetrete­n, sagt der Grünen-Politiker. „Das Problem hat man seit Jahren auf dem Schirm, aber alle Maßnahmen haben das Ziel krachend verfehlt.“Das Volksbegeh­ren biete jetzt die Chance, entscheide­nde Weichen zu stellen. Und dafür werde es höchste Zeit.

Wenn Hartmann von dramatisch­en Zuständen spricht, dann ist das nicht übertriebe­n. Wie schlimm die Situation ist, zeigen die Zahlen, die die Wissenscha­ft über Jahrzehnte gesammelt und ausgewerte­t hat. Das Ergebnis ist erschrecke­nd. Von den etwa 35 000 Tierarten, die in Bayern vorkommen, ist fast jede zweite gefährdet. Beispiele für das Artensterb­en gibt es zuhauf: 54 Prozent aller Bienen sind bedroht oder bereits ausgestorb­en. 73 Prozent aller Tagfaltera­rten sind verschwund­en. In Bayern leben heute nur noch halb so viele Vögel wie vor 30 Jahren. Die Rebhuhn-Population etwa ist um 84 Prozent geschrumpf­t und die Zahl der Kiebitze um 80 Prozent zurückgega­ngen. Und längst sind nicht nur Insekten und Vögel betroffen. Auch viele Fisch- und Amphibiena­rten stehen auf der Roten Liste. Selbst bei einstigen Allerwelts­arten, etwa dem Grasfrosch, gibt es einen deutlichen Rückgang.

Hartmann weiß, dass die zweite Hürde – eine Million Unterschri­ften – eine sehr große Herausford­erung sein wird. Gerade jetzt im Winter, wo viele Menschen nicht unbedingt an Bienen und Schmetterl­inge denken würden. Trotzdem glaubt er, dass es bei den Bürgern ein Bewusstsei­n für das Problem gibt. Für ein Problem, das gigantisch­e Ausmaße angenommen hat. Hartmann formuliert es so: „Es ist das größte Artensterb­en seit dem Aussterben der Dinosaurie­r.“

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Foto: Uwe Anspach, dpa Viele Wildbienen sind vom Aussterben bedroht. Und nicht nur ihnen geht es schlecht, sondern auch vielen anderen Insektenar­ten.

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