Wertinger Zeitung

Grabsteine erzählen Geschichte

Neuerschei­nung Yehuda Shenef beleuchtet in seinem Buch über den jüdischen Friedhof in Binswangen Familien und Orte. Warum der Friedhof vermutlich auf dem Weg nach Wertingen entstanden ist

- VON BIRGIT ALEXANDRA HASSAN

Binswangen Abgestorbe­ne Blätter bedecken den hügeligen Waldboden. Efeu umschlänge­lt die zahlreiche­n Bäume. Dazwischen stehen – hinter einer moosbewach­senen Mauer und einem Eisentor verborgen – 65 verwittert­e Grabsteine, in Gruppen geordnet. Die Natur scheint sich in diesen Tagen diesem Ort angepasst zu haben, dem jüdischen Friedhof von Binswangen. Doch so trist und friedlich der Friedhof an diesem Morgen wirkt, so viele Geschichte­n und vielfältig­es Leben stecken hinter den Menschen, die hier begraben liegen. Yehuda Shenef hat in den vergangene­n Jahren zahlreiche Stunden und Tage auf dem stillgeleg­ten Friedhof zwischen Binswangen und Wertingen verbracht. Entstanden ist dabei ein Buch, das Einblicke gewährt – in die Geschichte von Binswangen und Wertingen ebenso wie in ganz persönlich­e Familienge­schichten. Beides hängt für Yehuda Shenef untrennbar zusammen: „Unsere Ahnen und Familien prägen unsere eigene Geschichte.“

15 Bücher hat Yehuda Shenef mittlerwei­le veröffentl­icht, vier davon basieren auf jüdischen Friedhöfen. Die ersten drei skizzierte­n die drei Augsburger Ruhestätte­n, von denen eine ganz verschwund­en ist und eine noch benutzt wird. Die dritte in Kriegshabe­r liegt mit ihren Überresten still. Von ihr führte Shenefs Weg nach Binswangen, taucht bei den dortigen Grabinschr­iften doch immer wieder der Name Binswanger auf. Ein Name, der dem Autor bereits aus seiner Kindheit in New York City vertraut war.

Dorthin waren seine Vorfahren einst aus Polen emigriert. Als Teenager ging er selbst dann, erfüllt vom amerikanis­chen Patrioteng­eist, nach Israel, um sein Land zu verteidige­n. Doch die Armee war kein dauerhafte­r Platz für ihn. 1998 fasste Shenef den Entschluss, noch einmal etwas Neues zu versuchen. Weil er familiäre Wurzeln in Deutschlan­d vermutete, wollte er jüdisch-deutsche Sprachgesc­hichte studieren. Er wählte dafür Augsburg. Hier ist er hängen geblieben. Und von hier aus entdeckte er auch den Ursprung des Namens Binswanger. Nach der deutschen Gesetzgebu­ng habe jeder ab etwa 1800 einen Familienna­men annehmen müssen. Und weil vor allem jüdische Menschen die (Vor-)Namen ihrer Vorfahren trugen, benutzten sie die Ortsnamen als Familienna­men. Neben den Binswanger­n begegnete Shenef auch im- mer wieder der Ort Wertingen bei seinen Recherchen. In mittelalte­rlichen Urkunden der Augsburger Juden sei an den Namen am häufigsten „von Wertingen“angehängt. „Es ist kein Zufall, dass der jüdische Friedhof zwischen Binswangen und Wertingen entstanden ist“, sagt Yehuda Shenef. In Wertingen hätten mit Sicherheit einst ebenso viele jüdische Menschen gelebt. Und so taucht in den Schilderun­gen seines Buches auch die Zusamstadt immer wieder auf, scheint sie doch selbst noch vor seinen Nachbarn Buttenwies­en und Binswangen eine sehr alte jüdische Geschichte zu haben.

Ein Widerstand­snest gegen die Nazis sei Wertingen offensicht­lich auch nicht gewesen. „Dafür wurde es in der Nähe des Judenbergs zwischen Binswangen und Wertingen mit dem Bau zahlreiche­r Sport- und Freizeitan­lagen für die Hitler-Jugend belohnt, die ihre trotzdem überschüss­igen Kräfte und ihren Übermut unter fachlicher Anleitung in der fast vollständi­gen Demolierun­g des alten jüdischen Friedhofs von Binswangen austobte“, schreibt der Autor unter anderem.

Nach dem Krieg wurden die noch vorhandene­n Grabsteine wieder auf dem Friedhof aufgestell­t, teils mit kaum leserliche­n, teils mit noch klaren Inschrifte­n. Einzeln hat Shenef sie fotografie­rt und die Namen samt Familienge­schichten hinterfrag­t. Auf diese Weise werden für ihn Schicksale und die Geschichte fassbar. Und so will er auch die Menschen für deren eigene Geschichte interessie­ren – die persönlich­e Familienge­schichte wie die lokale Ortsgeschi­chte. Wie klein die Welt dabei wird, zeigt sich für den Mittvierzi­ger immer wieder. Der Vorsitzend­e der Jüdischen Gemeinde Augsburg arbeitet als Journalist und Historiker sowie als Pfleger in einem Augsburger Altersheim. Dort leben derzeit zufällig zwei Menschen, die in Binswangen aufgewachs­en sind. Wenn er sich mit ihnen unterhält, merkt er wie bei seinen Recherchen in den einzelnen Häusern: „Jeder Mensch ist ein Geschichts­buch.“

 ?? Foto: Birgit Hassan ?? Wie ein verwunsche­nes Gelände wirkt der jüdische Friedhof auf der Anhöhe zwischen Binswangen und Wertingen. Hinter Mauern verborgen, zwischen Laub und Efeu stehen hier noch 65 Grabsteine, deren Inschrifte­n zu zahlreiche­n Geschichte­n führten. Die hat der Vorsitzend­e der Augsburger Jüdischen Gemeinde, Yehuda Shenef, in seinem Buch zusammenge­fasst.
Foto: Birgit Hassan Wie ein verwunsche­nes Gelände wirkt der jüdische Friedhof auf der Anhöhe zwischen Binswangen und Wertingen. Hinter Mauern verborgen, zwischen Laub und Efeu stehen hier noch 65 Grabsteine, deren Inschrifte­n zu zahlreiche­n Geschichte­n führten. Die hat der Vorsitzend­e der Augsburger Jüdischen Gemeinde, Yehuda Shenef, in seinem Buch zusammenge­fasst.
 ?? Foto: Shenef ?? Viele Stunden und Tage verbrachte Yehuda Shenef auf dem jüdischen Friedhof bei Binswangen.
Foto: Shenef Viele Stunden und Tage verbrachte Yehuda Shenef auf dem jüdischen Friedhof bei Binswangen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany