Wertinger Zeitung

„Die Leistung der Griechen wird unterschät­zt“

Interview Der deutsche Ökonom Jens Bastian erlebt und beobachtet die griechisch­e Krise in Athen aus nächster Nähe. Der Experte erklärt die erstaunlic­he Verwandlun­g der Beziehunge­n zwischen Kanzlerin Merkel und Regierungs­chef Tsipras

- Interview: Michael Pohl

Herr Bastian, Sie leben und arbeiten seit 20 Jahren als Ökonom und Wirtschaft­sberater in Athen. Zuletzt ist es ruhiger um die Griechenla­nd-Krise geworden, jetzt kommt Angela Merkel auf Staatsbesu­ch. Droht der Kanzlerin bei ihrem Besuch in Athen ein unangenehm­er Empfang?

Jens Bastian: Nein, dieser Besuch dürfte eher eine angenehme Überraschu­ng werden. Erstmals seit der Krise kommt Merkel nicht zu einem Blitzbesuc­h, sondern bleibt für zwei Tage. Das gab es in den vergangene­n Jahren nicht und wird positiv aufgenomme­n. Anders ist auch, dass Teile der Athener Innenstadt nicht wie bei Merkels früheren Kurzbesuch­en mit einem großen Polizeiauf­gebot hermetisch abgeriegel­t werden. Damals gab es die Demonstrat­ionen mit beleidigen­den Plakaten und Transparen­ten. Doch heute ist Merkel nicht mehr das große Feindbild für die Griechen. Im Gegenteil, die allermeist­en Bürger nehmen kaum Notiz von ihrem Besuch.

Auch das Verhältnis zu Ministerpr­äsident Alexis Tsipras hat sich verändert. Warum zählen heute beide Regierungs­chefs aufeinande­r?

Bastian: Ein Hauptthema des Besuchs ist eine wichtige Parlaments­abstimmung Anfang Februar, um den Namensstre­it mit Mazedonien beizulegen. Griechenla­nd hat sich bislang geweigert, das Nachbarlan­d mit diesem Namen anzuerkenn­en, und seine Integratio­n in die Nato und die EU per Veto verhindert. Wenn in Athen und Skopje die Parlamente zustimmen, soll das Land künftig Republik Nord-Mazedonien heißen. Europa verspricht sich davon eine Stabilisie­rung der Balkanregi­on. Merkels Besuch ist nun eine wichtige Unterstütz­ung für Alexis Tsipras’ Initiative. Es ist keineswegs sicher, dass er für sein Abkommen eine Mehrheit im Parlament erhält. Sein kleiner, rechtsnati­onalistisc­her Koalitions­partner wehrt sich vehement dagegen. Ein Bruch der Koalition droht, mit möglichen vorgezogen­en Neuwahlen.

Ist das eine Ironie der Geschichte, dass die CDU-Kanzlerin nun den Linkspopul­isten Alexis Tsipras unterstütz­t und sich gegen den Chef ihrer politisch nahstehend­en konservati­ven Schwesterp­artei Nea Demokratia, Kyriakos Mitsotakis, stellt?

Bastian: Frau Merkel hat bereits seit Jahren ein gutes und konstrukti­ves Verhältnis zu Herrn Tsipras aufgebaut. Das beruht auf Gegenseiti­gkeit. Beide können miteinande­r, und haben insbesonde­re in der Flüchtling­sfrage konstrukti­v zusammenge­arbeitet. Es ist nun interessan­t, dass Frau Merkel kommt, um Tsipras zu unterstütz­en. Der ihr politisch näher stehende konservati­ve Opposition­schef Mitsotakis von der Nea Demokratia lehnt das Abkommen scharf ab. Frau Merkel müsste ihm jetzt bei ihrem Treffen eigentlich die Leviten lesen. Welche Rolle spielt die wirtschaft­liche Krise bei Merkels Besuch?

Bastian: Merkel ist der erste europäisch­e Regierungs­chef, der Athen besucht, seitdem Griechenla­nd das dritte Rettungspa­ket verlassen hat. Das ist auch ein Signal der Anerkennun­g. Die Kanzlerin wird Tsipras darin bestärken wollen, den Reformkurs fortzusetz­en, der ja noch nicht abgeschlos­sen ist. Merkel wird betonen, dass es wichtig wird, dass sich Griechenla­nd auch ohne den Druck eines internatio­nalen Rettungspa­kets weiter an seine eingegange­nen Verpflicht­ungen hält. Und Tsipras wird betonen, dass Griechenla­nd dabei weitere Unterstütz­ung braucht. Beide werden versuchen, Signale an deutsche Unternehme­n auszusende­n, in Griechenla­nd zu investiere­n.

Wie gut hat die Regierung Tsipras bislang die Reformen umgesetzt? Bastian: Es ist viel umgesetzt worden. Es wird oft in Deutschlan­d unterschät­zt, wie viel in Griechenla­nd mithilfe von drei Rettungspr­ogrammen in den vergangene­n zehn Jahren geleistet worden ist. Es gibt mittlerwei­le europäisch­e Standards in der Steuerpoli­tik, aber auch in der Steuerhöhe. Die Steuerehrl­ichkeit hat nachprüfba­r zugenommen. Es ist jetzt nicht mehr das Problem, dass Privathaus­halte und Unternehme­n die Steuern nicht zahlen, sondern dass sie sie oft nicht mehr zahlen können. Griechenla­nd ist ein Hochsteuer­land geworden. Bei den Unternehme­n häufen sich die Steuerschu­lden an, die Privathaus­halte haben längst die Belastungs­grenze erreicht. Inzwischen muss man darüber reden, wie man in ausgewählt­en Bereichen Steuern senken muss. Denn die Rettungspo­litik war vor allem eine Steuererhö­hungspolit­ik. Das halte ich aus ökonomisch­er Sicht langfristi­g für nicht tragbar.

Wie ist die wirtschaft­liche Lage? Bastian: Die einsetzend­e Erholung der Wirtschaft kommt bei den Menschen noch nicht an. Wir haben eine Arbeitslos­enquote, die zur Tourismuss­aison bei 18 Prozent und im Winter bei 20 Prozent liegt. Die Jugendarbe­itslosigke­it steigt dann auf über 40 Prozent. Die neu entstehend­en Arbeitsplä­tze sind meist befristet – etwa im Sektor Tourismus meist auf vier Monate. Die Wirtschaft wächst zwar um knapp zwei Prozent, aber das ist zu wenig, weil sie von einem niedrigen Ausgangsni­veau kommt.

Was kann das verschulde­te Land für mehr Wachstum tun?

Bastian: Griechenla­nd erzielt inzwischen bei den laufenden Staatseinn­ahmen und -ausgaben im Haushalt einen Überschuss von mehr als 3,5 Prozent. Dieses Geld wird aber wegen der Sparauflag­en kaum in die Wirtschaft investiert. Ökonomisch sinnvoll wäre ein Wirtschaft­swachstum in dieser Größenordn­ung und ein kleinerer Budgetüber­schuss. Der Staat könnte mehr investiere­n und selbst für Wachstum sorgen.

Kann Griechenla­nd jemals seine Schulden zurückzahl­en?

Bastian: Die Erwartung, dass Griechenla­nd langfristi­g seinen Schuldenbe­rg durch Wirtschaft­swachstum abtragen kann, ist eine Illusion. Das kann dem Land nicht gelingen. Und ich halte es für unverantwo­rtlich, diese Last auf zukünftige Generation­en abzuwälzen. All die jetzigen Lösungen mit Moratorien und Rückzahlun­gsstreckun­gen wirken nur wie Heftpflast­er – irgendwann kommt das Thema zurück. Am Ende wird man wieder über einen Schuldensc­hnitt reden müssen. Das würde jedes Land treffen und am allermeist­en Deutschlan­d mit einem Haftungsan­teil von 27 Prozent. Aber da geht es schlussend­lich um Ehrlichkei­t. Auch Deutschlan­d wurde übrigens 1952 nach dem Krieg ein Teil seiner Altschulde­n bei der Londoner Schuldenko­nferenz gestrichen, was dem Wirtschaft­swunder geholfen hat. Ein Blick in die Geschichts­bücher wäre für die Diskussion hilfreich. ⓘZur

Person Der in Nürnberg geborene Ökonom Dr. Jens Bastian, 58, war von 2011 bis 2013 Mitglied der EU-Griechenla­nd-Task-Force.

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Foto: Imago Auch in Athen und auf der Akropolis liegen derzeit Schnee: Warum Kanzlerin Angela Merkel dennoch nicht mit einem frostigen Empfang rechnen muss, erklärt Experte Jens Bastian.
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