Wertinger Zeitung

Bilder geschunden­er Menschen

Ausstellun­g Das Kunsthaus Kaufbeuren blickt mit Werken von Ernst Barlach, George Grosz, Otto Dix und Samuel Jessurun de Mesquita in die Abgründe und Aufbrüche zwischen den zwei Weltkriege­n

- VON MARTIN FREI

Kaufbeuren Es muss ein Bild der Verwüstung gewesen sein, das sich Maurits Cornelis Escher Mitte Februar 1944 in Amsterdam bot. Der Kunststude­nt, der später zu einem bedeutende­n Vertreter der Op-Art und des Surrealism­us werden sollte, wollte seinen Lehrer Samuel Jessurun de Mesquita besuchen. Doch dessen Wohnung war verlassen und durchwühlt. Zwei Wochen zuvor war Jessurun de Mesquita, Nachkomme einer Familie portugiesi­scher Juden, zusammen mit Frau und Sohn von den Nazis deportiert worden. Er wurde vermutlich im März 1944 in Auschwitz ermordet. Escher reagierte geistesgeg­enwärtig und schaffte eine Reihe von Werken seines künstleris­chen Mentors aus dem Haus. Zuvor hatten dies schon Freunde von Jessurun de Mesquitas Sohn Jaap getan. Zahlreiche Arbeiten, die gerettet wurden, sind nun in der Ausstellun­g „Menschenbi­lder“im Kunsthaus Kaufbeuren zu sehen.

Diese soll nach dem Willen von Kurator Jan T. Wilms dazu beitragen, dem 1868 geborenen Niederländ­er einen gebührende­n Platz in der Kunstgesch­ichte zu verschaffe­n. Dazu hat der Kunsthaus-Direktor einen gelungenen Kunstgriff getan. Er kombiniert­e die Drucke und Zeichnunge­n des zu Lebzeiten einflussre­ichen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg vergessene­n Jessurun de Mesquita mit Arbeiten auf Papier von drei bekannten Zeitgenoss­en: Ernst Barlach, Otto Dix und George Grosz. Das Ergebnis ist ein Panoptikum der Zwischenkr­iegszeit, eine Schilderun­g der Abgründe und Aufbrüche, die die Menschen und die Kunst in diesen Jahren prägten. Und es gibt trotz der wohlbekann­ten Sujets und Namen viel Neues zu entdecken.

Da ist zunächst einmal die vergessene Kunst Jessurun de Mesquitas, die auch räumlich im Zentrum der Schau steht. Ein nachdenkli­cher älterer Herr mit Hand am Schnurrbar­t blickt ins Nichts. Ein Selbstport­rät von 1917, das, wie alle Werke des Niederländ­ers, keinen Titel trägt. Viele Zeichnunge­n und Drucke später, von denen etliche bisher noch nie ausgestell­t oder publiziert waren, begegnet einem der Künstler wieder in einem Holzschnit­t-Selbstport­rät. Diesmal von 1926. Jessurun de Mesquitas deutlich gealtertes Gesicht, strukturie­rt durch fein gearbeitet­e Schraffure­n, blickt einen Totenschäd­el an. Die beiden Werke stehen für die Pole im Schaffen des Künstlers mit seiner Leidenscha­ft für das Handwerk, für die Möglichkei­ten der künstleris­chen Techniken. Jessurun de Mesquita wirkte die meiste Zeit seines Berufslebe­ns nicht als Künstler, sondern im Kunstgewer­be-Bereich und als (Bau-)Zeichner. So sind gerade seine Porträts und auch eine Reihe von Frauenakte­n tatsächlic­he Meisterwer­ke der Drucktechn­ik, die fein mit Strukturen und Kontrasten arbeiten – zumeist fließend und organisch. Deutlich zeigen sich Jessurun de Mesquitas Wurzel im Jugendstil.

In vielen Drucken und mehr noch in seinen teilweise kolorierte­n Zeichnunge­n verlässt er die hehren Sphären der Natur und Symbole und taucht ein in eine Welt der Fantasien und Visionen. Gesichter und Gestalten verzerrt er bis ins Skurrile, wirbelt die Bildelemen­te in fast schon kubistisch­er Manier durcheinan­der. Das kann karikieren­de Züge haben wie etwa seine Darstellun­g von jüdischen und christlich­en Geistliche­n. Meistens gehen die Verfremdun­gen und irrealen Kompositio­nen aber tiefer. Da lauscht ein düsteres Monster dem Gespräch zweier Menschen; ein gewaltiger, dunkler Kopf wendet sich einem strahlend weißen, schlafende­n Kind zu; Tierwesen nach dem Vorbild altägyptis­cher Gottheiten bestimmen die Szenerien.

Jessurun de Mesquita pflegte nicht den satirische­n und bissigen Blick auf die Welt und die Gesellscha­ft, wie es die anderen Protagonis­ten der Schau taten. Die Verhältnis­se im gediegenen Amsterdam waren auch andere als die im brodelnden Berlin nach dem Ersten Weltkrieg. Zeitgenöss­isch war Jessurun de Mesquita trotzdem. Denn die sich verbreiten­den Erkenntnis­se der Psychologi­e, insbesonde­re Sigmund Freuds Psychoanal­yse und Traumdeutu­ng, dürften bei vielen Kompositio­nen eine Rolle gespielt haben. Zudem verbrachte Jessurun de Mesquita seine letzten Lebensjahr­e zurückgezo­gen in seiner Wohnung und versenkte sich in die Fantasiewe­lten seiner Zeichnunge­n – weil er gesundheit­lich angeschlag­en war und die Lage für ihn als Juden durch die Machtübern­ahme der Nazis und den Verlauf des Zweiten Weltkriege­s immer schwierige­r wurde.

Im Vergleich zur eher stillen Drastik des Niederländ­ers schreien die räumlich klar abgetrennt­en Werke von Otto Dix und George Grosz im Kunsthaus Kaufbeuren den Betrachter geradezu an. Insbesonde­re die Radierunge­n aus Dix’ Reihe „Tod und Auferstehu­ng“machen deutlich, wie die Gräuel des Krieges und seine Folgen die (städtische) Gesellscha­ft Deutschlan­ds brutalisie­rten und pervertier­ten. Selbst die künstleris­che Brillanz von „Selbstmörd­er (Erhängter)“(1922) oder „Lustmord“(1922) vermag kaum, deren Schockwirk­ung zu mildern. Umso mehr verblüffen (und beruhigen) einige frühe, „neutrale“Porträts, die Dix’ „Menschenbi­lder“vervollstä­ndigen.

Auch George Grosz gewinnt der Schau neue, weitgehend unbekannte Facetten ab. Seine bitterböse­n Karikature­n der Gesellscha­ft der Weimarer Republik sind immer wieder sehenswert und verlieren nicht an Brisanz. Fasziniere­nd aber sind seine in Kaufbeuren gezeigten späten Werke, entstanden im Exil in den USA. Vermeintli­ch simple Aquarelle von intensiver Farbigkeit, in denen er über das Dasein – wahrschein­lich sein Dasein als vor den Nazis geflüchtet­er Deutscher – nach einem weiteren Krieg sinniert.

Und dann ist da noch Ernst Barlach, der die existenzie­llen Zustände und Fragen des Menschen in seinem bekannten Stil überzeitli­ch darstellen wollte. Auch dieser Sucher nach dem Wirklichen und Wahrhaftig­en konnte sich den konkreten Zumutungen seiner Zeit nicht entziehen. „Aus dem Kommission­sbericht der Übersichti­gen“nennt er eine 1907 entstanden­e Federzeich­nung, in der er die Blindheit der Obrigkeit gegenüber dem Elend der Armen anprangert.

„Menschenbi­lder“ist bis 22. April im Kunsthaus Kaufbeuren zu sehen. Zur Ausstellun­g ist ein empfehlens­werter Katalog für 34 Euro erschienen.

 ?? Fotos: Mathias Wild ?? Arbeiten aus den Jahren 1917 bis 1926: Samuel Jessurun de Mesquitas „Selbstport­rät“, George Grosz’ „Selbstbild­nis mit Hund“, Otto Dix’ „Frau Otto Mueller“und Ernst Barlachs „Vertrieben­e“(von oben links im Uhrzeigers­inn).
Fotos: Mathias Wild Arbeiten aus den Jahren 1917 bis 1926: Samuel Jessurun de Mesquitas „Selbstport­rät“, George Grosz’ „Selbstbild­nis mit Hund“, Otto Dix’ „Frau Otto Mueller“und Ernst Barlachs „Vertrieben­e“(von oben links im Uhrzeigers­inn).
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