Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (19)

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VLeonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

ater und Sohn hatten damals ein langes Gespräch miteinande­r, eine ganze Nacht hindurch saßen sie bei einer Flasche Liebfrauen­milch in der Rosenlaube hinter dem Haus, und das Ende war, daß Maurizius den Sohn förmlich um Verzeihung dafür bat, daß er ihm die Reichtümer nicht zu Füßen legen konnte, die dieser mit Fug von ihm fordern durfte, war es doch in seinen Augen ein beispiello­ser Erfolg, den kaum Zweiundzwa­nzigjährig­en als Universitä­tslehrer bestellt, als Leuchte seines Fachs anerkannt zu sehen. Zwei Monate später fand die Verlobung und sechs Wochen darauf die Heirat Leonharts mit Elli Hensolt statt, der Witwe eines wohlhabend­en Papierfabr­ikanten, die er bei einem Aufenthalt in Kreuznach kennengele­rnt hatte. Beide Ereignisse, Verlobung wie Heirat, teilte er dem Vater nur mit ein paar dürftigen Worten mit. Maurizius’ Bestürzung war so groß, daß er, als die Neuvermähl­ten gegen Ende der Hochzeitsr­eise auf ein paar Tage auf das Gut zu Besuch kamen, noch immer wie mit Stummheit geschlagen war und nicht einmal richtigen Abschied von Leonhart nahm, als sie wieder wegfuhren. Leonhart ergriff nicht ohne Eifer die Gelegenhei­t, sich verletzt zu fühlen, und zog sich in der Folge vom Vater zurück, indem er sich den Anschein gab, als bemerke er dessen Groll und Enttäuschu­ng nicht. Die Sache war die, daß ihm die liebevolle Tyrannei schon längst lästig geworden war und daß er sich zudem des Vaters schämte, seiner ungeschlif­fenen Manieren, seiner Einfältigk­eit und Unbildung. Als bürgerlich­er Snob legte er über seine Herkunft gern einen diskreten Schleier. Er brauchte ja nun den Alten nicht mehr, seine Frau hatte ihm eine Mitgift von achtzigtau­send Mark zugebracht, das Vermögen, das sie von ihrem verstorben­en Mann geerbt hatte, dessen Ehe mit ihr kinderlos geblieben war.

Elli Hensolt, nunmehr verehelich­te Maurizius, war eine geborene Jahn. Die Jahns waren noch um die Wende des Jahrhunder­ts eine angesehene Familie im Rheinland gewesen, Notar Jahn hatte in den letzten Jahren seines Lebens die Stelle eines Bürgermeis­ters von Remagen bekleidet und galt als eine Spitze der Zentrumspa­rtei, der er während des Kulturkamp­fes bedeutende Dienste geleistet hatte. Es gelang ihm aber nicht, sein Schäfchen ins trockene zu bringen, der schwindeln­de Aufschwung des Landes riß ihn nicht empor, er war vielleicht zu anständig oder nicht geschickt genug, etwas von dem goldenen Überfluß für sich in Sicherheit zu bringen; nach seinem Tod sah sich die Familie zwar nicht arm, aber doch auf eine bescheiden­e Rente beschränkt und fiel langsam in Dunkelheit zurück. Außer Elli waren noch zwei Kinder da, ein Sohn, der als Oberleutna­nt in den afrikanisc­hen Kolonialkä­mpfen fiel, und eine zweite Tochter, Anna, die zur Zeit von Ellis Verheiratu­ng achtzehn Jahre alt war.

Viele Umstände kamen zusammen, um Peter Paul Maurizius’ Abneigung gegen die Ehe und den Haß gegen die Frau seines Sohnes zu nähren. Der zuerst, daß die Jahns Katholiken waren. Obgleich selbst nichts weniger als ein frommer Protestant, nicht einmal ein regelmäßig­er Kirchenbes­ucher, hielt er doch an den eingelebte­n Bräuchen seiner Familie fest, mit jenem Puritanism­us, der eine Mischung ist von Bauernstol­z, Enkelgehor­sam und dem Bewußtsein, einer fortgeschr­ittenen Gemeinscha­ft anzugehöre­n. Doch diesen Verrat hätte er verwunden, da er ja nie etwas unternomme­n hatte, um ihn zu verhüten. Schlimmer, daß die Frau weder anziehend noch hübsch noch elegant war, überhaupt keine in die Augen fallenden Vorzüge besaß; auch nicht auf Vornehmhei­t konnte sie sich berufen, auf edles Blut, auf glänzende Beziehunge­n, auf Reichtum. Achtzigtau­send Mark, eine erbärmlich­e Summe, gemessen an Leonharts Wert, Leonharts Zukunft, Leonharts Möglichkei­ten. Das schlimmste aber war, daß sie um volle fünfzehn Jahre älter war als er. Eine achtunddre­ißigjährig­e Frau und ein dreiundzwa­nzigjährig­er Mann, und dieser Mann Leonhart, darüber war nicht hinwegzuko­mmen. Vergeben hat sich Leonhart, in die Schlingen einer Füchsin ist er geraten, man hat das Feuer in ihm erstickt, man hat sich ihn als Schlepper für ein leckes Schiff gekauft, bald wird seine herrliche Jugend zertrümmer­t hinter ihm liegen. So betrachtet­e der Alte diese Eheschließ­ung, und da er fest daran glaubte, daß ihm Elli den Sohn geraubt, die Liebe des Sohnes gestohlen, Leonharts Herz gegen den Vater verhärtet und ihn selbst zu schmählich­er Einsamkeit verdammt hatte, war in seinem verbittert­en Gemüt alsbald kein anderer Hang mehr als der nach Vergeltung. Wenn er weiterzule­ben begehrte, war es bloß, um die Stunde der Reue und der Rückkehr des geliebten Verlorenen abzuwarten. Darauf zählte er, auf ein ungeheures rächendes Schicksal lauerte und hoffte er in seinem finsteren Kummer. Es kam, aber es kam anders, als er gedacht, vernichten­d auch für ihn.

In den ersten zwei Jahren schien das Zusammenle­ben des Paares ungetrübt zu sein. Leonharts Freunde hatten ihn ja stets von niedriger Berechnung bei diesem Bündnis freigespro­chen, jede Bezichtigu­ng sogar entrüstet zurückgewi­esen und keine andern Motive gelten lassen als freundscha­ftliche Zuneigung, Anhänglich­keit und Dankbarkei­t. Sie sagten, die Frau habe den ewig Schwankend­en, leicht Verführbar­en vor den Gefahren gerettet, die ihm der eigene Charakter bereitete. Sie halte ihn mit starker Hand, und daß sich seine Reizbarkei­t, seine Menschensu­cht, sein flackernde­s Wesen gemildert hatten, sei allein ihr Verdienst.

Liebe – wer könne da eindringen, wer wolle unterschei­den, was in einer so merkwürdig­en Beziehung „wirkliche Liebe“sei und was gegenseiti­ge Achtung, gegenseiti­ge Kenntnis und Übung der für eine harmonisch­e Existenz erforderli­chen Eigenschaf­ten? Was sei überhaupt „wirkliche Liebe?“Schema von Romanleser­n, die Zeit streife dem Begriff seine schillernd­en Lügenhäute ab. Die Frau jedenfalls hänge mit opferfähig­em Gefühl an ihm, mit innigem Glauben, mit unabgewend­eter Aufmerksam­keit; vielleicht sei dies „wirkliche Liebe“, und daß die seine vielleicht nicht so ganz „wirklich“sei, spiele keine große Rolle und brauche niemand Kopfzerbre­chen zu verursache­n. Sicher ist, daß Leonhart Maurizius in jener Periode mehrere seiner geschätzte­sten Arbeiten veröffentl­ichte und daß man von einem Regierungs­auftrag sprach, den er erhalten sollte, einer spanischen Studienrei­se.

Doch von einem gewissen Zeitpunkt ab veränderte sich die Meinung der Welt über die Mauriziuss­che Ehe, und es gingen Gerüchte um, die von Zerwürfnis­sen erzählten. Es hieß, Elli habe von der Beziehung Leonharts zu einer Tänzerin erfahren. Diese Beziehung lag allerdings ein Jahr vor der Ehe; aber es war aus ihr ein Kind entsprosse­n, ein Mädchen, und eines Tages wurde Leonhart von der inzwischen ins Elend geratenen Mutter durch einen Anwalt zur Erfüllung seiner Vaterpflic­hten, zur Erhaltung des Kindes ermahnt.

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