Gepiercte Schönheit
Der Dichter Martin Opitz veröffentlichte im Jahre 1644 den Satz: „Wilt du sehen, was Schönheit ist, so must du die Augen der Vernunfft zu Rathe nehmen.“Aber erst heute wird seine Empfehlung ernst genommen. Denn überall wird mit der verfügbaren Vernunft für Verschönerung gesorgt.
Prominente Fußballspieler demonstrieren das Ausmaß ihrer Vernunft, wenn sie ihre Haut mit Tätowierungen in eine Gemäldegalerie verwandeln lassen. Immer mehr Frauen vertrauen auf die Vernunft von Schönheitschirurgen und sichern sich mit Silikonimplantaten eine Traumfigur. Der Gipfel menschlicher Schönheit wird aber erst mit dem Nasenring erreicht. Beringt mit Gold und Silber überwindet das Riechorgan endlich seine banale Funktion als Sammelplatz von Sekreten und wird für schönheitshungrige Beobachter zum Blickfang.
Obwohl sich die von zeitgemäßer Vernunft gestützte Schönheit weltweit ausbreitet, gibt es immer noch Menschen, die bei der Betrachtung von Tattoos, Silikongesichtern und Nasenringen jede Begeisterung vermissen lassen. Sie teilen die Auffassung, die der Geheime General-Postamts-Calculator und Kunstkenner Johann Gottlieb Siegmeyer im Jahre 1822 zu Papier gebracht hat: Er fordert, „nicht alles für schön zu halten, was neu und künstlich ist, weil leider die Schönheiten in der Künstlichkeit gesucht und die große Kunst, durch Einfachheit schön und unnachahmlich zu werden, übersehen wird.“