Wertinger Zeitung

Ein Vorbild an Lebensmut

Joachim Deckarm war der beste Handballer der Welt – bis ihn ein tragischer Moment zum Pflegefall machte. Aber soll er deshalb mit seinem Schicksal hadern?

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Mit zwei Sätzen ist alles gesagt. Zehn Jahre nach dem Spiel, das Joachim Deckarm zu einem Pflegefall gemacht hat, kommt der Ungar Lajos Panovics nach Gummersbac­h. Er ist der Mann, mit dem der beste Handballer der Welt damals, in Tatabanya, so unglücklic­h zusammenge­prallt ist. Zögerlich geht Panovics auf Deckarm zu, der in einem Rollstuhl hinter den Kampfricht­ern sitzt. Der aber lächelt ihn an, erhebt sich kurz und sagt: „Lajos, ich weiß, was passiert ist. Ich bin dir nicht böse.“

Ein doppelter Schädelbas­isbruch, schwere Gehirnquet­schungen, mehr als vier Monate im Koma: Es läuft die 23. Minute im Halbfinale zwischen dem VfL Gummersbac­h und dem ungarische­n Pokalsiege­r Banyasz Tatabanya, als Deckarm mit dem Kopf auf den Betonboden der Halle knallt. Heiner Brand, der spätere Bundestrai­ner, hat einen Pass der Ungarn abgefangen und den Ball schnell nach vorne gespielt. Deckarm dreht sich in Richtung Tor und stößt mit Panovics zusammen. Eine Szene, wie sie in jedem Handballsp­iel vorkommen kann – und zugleich eine der folgenschw­ersten überhaupt im Welthandba­ll. Als Deckarm im Sommer 1979 aus dem Koma erwacht, beginnt sein Leben quasi von vorne. Reduziert auf den Stand eines Kleinkinde­s muss er wieder lernen, zu essen, sich zu artikulier­en, ein paar Schritte zu gehen. Und obwohl er nie mehr der alte „Jo“werden wird, hadert er nicht mit seinem Schicksal, sondern tastet sich zurück ins Leben. Einmal Sportler, immer

Sportler: Jahrelang trainiert er 20 Stunden die Woche auf dem Fahrrad-Ergometer.

Seinen 65. Geburtstag an diesem Samstag wird Deckarm mit Brand und einigen Kumpels aus der Weltmeiste­rmannschaf­t von 1978 in einem Gummersbac­her Seniorenze­nttrum feiern, in dem der gebürtige Saarbrücke­r seit einigen Monaten lebt. Sein Bruder Herbert wohnt hier in der Nähe, der auch sein gesetzlich­er Betreuer ist, und ein paar alte Freunde wie Brand, die sich um ihn kümmern, ihn regelmäßig besuchen und bei Spielen wie dem der Deutschen heute mit ihm fiebern. Einen wie Deckarm hat der deutsche Handball schon lange nicht mehr. Der frühere Jugendmeis­ter im Fünfkampf ist in den siebziger Jahren die Idealbeset­zung auf der Königsposi­tion im linken Rückraum: spielintel­ligent, schnell, wurfgewalt­ig. Dreimal wird er mit Gummersbac­h Meister, zweimal holt er den Europacup – und als Krönung der Karriere den WM-Titel. Sechs Tore macht Deckarm beim 20:19 im Finale gegen die Sowjetunio­n, den Olympiasie­ger und haushohen Favoriten. Im Hexenkesse­l von Kopenhagen, schreibt unsere Zeitung danach, „war der Gummersbac­her Joachim Deckarm der überragend­e Mann“. Ein Jahr später ist in Tatabanya alles vorbei.

„Was Lebensmut, Lebenswill­en und Kampfgeist betrifft, kenne ich kein besseres Vorbild“, sagt sein ehemaliger Gegenspiel­er Panovics. Heute sind die Männer, die ein tragischer Moment für immer verbindet, gute Freunde. Rudi Wais

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Foto: dpa

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