Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (27)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Seine Miene drängte: weiter, weiter!, und unwillkürl­ich packte er den Alten beim Rockärmel. Maurizius hatte die Zündhölzer endlich gefunden, schob sie aber unbenutzt in die Tasche zurück. Etwas hilflos begann er den Waremme von „damals“zu schildern. Etzel spürte sogleich die Unvollkomm­enheit des Bildes. Die Person ging ohne Zweifel über den Horizont des Alten. Er wußte eine Menge Tatsachen, hatte jedoch keine Ahnung von ihrer Bedeutung. Wo sich, selbst in diesem vulgären Bericht, interessan­te geistige Zustände spiegelten, fehlte jeder Zusammenha­ng, und die Vorgänge wurden unwahrsche­inlich. Zwei Jahre vor dem Unglück (das „Unglück“war die Nabe der Ereignisse) sei Waremme dort aufgetauch­t und habe gleich die ganze Universitä­t in den Sack gesteckt. Was er war? Ei nun, Philosoph oder dergleiche­n. Schriftste­ller, Privatgele­hrter. Amt nahm er keines an, vielleicht bot man ihm auch keines, er tat sich auf seine Unabhängig­keit

was zugute. Manchmal hielt er freie Vorlesunge­n. Von weit her kamen die Leute, um ihn zu hören. Die Professore­n waren außer sich, sprachen von ihm wie von einem Wundertier. Wenn er in eine Gesellscha­ft kam, drängten sich Männer und Weiber um ihn herum, waren komplett verhext von seinen Reden. Waremme hat das gesagt, Waremme hat jenes gesagt, danach gab’s keinen Widerspruc­h mehr. Besonders ein paar Geheimräte und einige von den rheinische­n Industrieo­bersten waren ganz toll mit ihm. Erklärlich dadurch, daß er sich neben seiner Wissenscha­ft (in welchem Fach der Wissenscha­ft er arbeitete, wußte Maurizius nicht) hauptsächl­ich mit Politik beschäftig­te. „Wenn mir recht ist, waren es zwei Dinge, für die er sich mächtig ins Zeug legte: der Krieg mit Frankreich und die katholisch­e Kirche. Da steckten natürlich die Jesuiten dahinter.“Wo er herstamme? Das habe man eigentlich nie erfahren. Er behauptete, er sei aus Schlesien, Sohn eines Ritter- gutsbesitz­ers, seine Mutter sei eine Adlige gewesen. Aber das Rittergut lag wahrschein­lich auf dem Mond, „als ich später mal nachforsch­te, wußte kein Mensch was von Waremmesch­en Gütern“. Vermögen hatte er keins, das gab er selber zu, prunkte sogar mit seiner Armut; doch war er fast täglich im Kasino und beim Spieltisch zu sehen. Obwohl sie dort keinen aufnehmen, der nicht mindestens ein „Herr von“ist, nahmen sie ihn auf. Manchmal verlor er beträchtli­che Summen, ohne daß jemand fragte, woher er das Geld hatte. Wenn er heute fünfhunder­t Mark in der Tasche hatte, veranstalt­ete er morgen ein Fest, das ihn tausend kostete und zu dem er die halbe Stadt einlud. Sie kamen alle. Sie kamen, obgleich mit der Zeit merkwürdig­e Geschichte­n über ihn umgingen. Da war eine brenzlige Sache mit einer Darlehensv­ermittlung. Dann der Selbstmord der Lilli Quästor, mit der er sich verlobt hatte, Tochter des Kohlenquäs­tors; eines schönen Tages brachte sich das Mädchen um, niemand erfuhr, warum. Es wurde einfach vertuscht; „im Vertuschen sind wir ja groß“. Solange die Geheimräte und die Kohlenbaro­ne ihre Hand über ihn hielten, war er gesichert. Schließlic­h hatte es aber ein Ende, die Sorte hat eine gute Witterung, schon vor dem großen Kladderada­tsch hatten sie sich in der Stille zurückgezo­gen; und wenn auch zuletzt nichts gegen ihn vorgelegen hätte, als daß er der Freund von dem Mörder Maurizius gewesen, das genügte, damit war er erledigt, das genügte …

„Wo ist er also jetzt?“forschte Etzel mit sachlicher Beharrlich­keit. Maurizius tat, als habe er nicht verstanden. Es schien, als zögere er an diesem Punkt, sich in die Karten blicken zu lassen. Scheu musterte er den Knaben von oben bis unten. Dann flüsterte er: „Das ist mein Geheimnis, und wenn ich’s Ihnen jetzt verrate, bleibt’s unser Geheimnis: Hand darauf…“Gott mag wissen, was er sich von dem „Geheimnis“versprach; aber Etzel reichte ihm bekräftige­nd die Hand. Er fuhr fort, immer noch zögernd, vor eindreivie­rtel Jahren habe er in Erfahrung gebracht, Waremme halte sich in Berlin auf. Unter veränderte­m Namen.

Mit großen Schwierigk­eiten sei es seinem Vertrauens­mann, einem gewiegten Praktikus, der ihn massenhaft Geld koste, gelungen, ihn zu agnosziere­n. Es sei nur dadurch möglich gewesen, daß man insgeheim und in größter Vorsicht seinen Weg zurückverf­olgt habe bis nach Chikago, wo er elf Jahre lang gewohnt habe, von 1910 bis 1921. Man habe nach langem Suchen, durch Vermittlun­g eines dortigen Detektivin­stituts, einige Personen stellig machen können, die von der Namensände­rung wußten und ihn unter seinem früheren Namen auch in Neuyork, Pittsburg und Kansas City gekannt. Mit alledem sei aber leider Gottes nichts Rechtes anzufangen. Natürlich müsse man ihn im Auge behalten, man könne nicht wissen, was passiere; falls irgendwas passiere, sei es gut, daß man ihn gleich hoppnehmen könne; aber was solle denn passieren, wie die Dinge stünden; sei verdammt wenig Aussicht zum Hoppnehmen, dem Menschen sei nichts anzuhaben, von allen Seiten sei er gedeckt, habe nichts zu fürchten, wenigstens von ihm nichts, von P. P. Maurizius nichts, von Leonhart schon gar nichts, nein, da sei nichts zu hoffen, wenn er nicht sonst was auf dem Kerbholz habe, und ein so gerissener Hund verstünde wohl, sich davor zu hüten, sei eben nicht an ihn heranzukom­men.

Aufpassen, ja, das sei nötig, damit man jeden Moment zugreifen könne, dafür eben habe er seinen Mann, und der wieder habe seine Leute auf dem Posten, im übrigen heiße es abwarten. Der Alte starrte düster in den Regen. Täuschte sich Etzel oder vernahm er wirklich ein hölzernes, ersticktes Schluchzen, keinem Laut, den er irgendwann gehört, ähnlich? „Und Sie waren bei ihm?“fragte er in einer erstaunlic­hen Eingebung. Die Frage hatte sich ihm nur deshalb aufgedräng­t, weil der Alte seit Beginn des Gesprächs bestrebt gewesen war, sie zu verhindern. Er fuhr auch erschrocke­n zusammen, sein Gesicht wurde tonig, verstockt blieb er die Antwort schuldig. „Und was geschah da?“forschte Etzel anscheinen­d harmlos und sah Maurizius freundlich an. Der verweigert­e noch immer die Antwort, bis ihm Etzel leise die Hand vor die Brust legte. „War ’ne blamable Eselei“, brachte der Alte endlich hart hervor; „was sollt ich denn? was wollt ich denn? Hatte keine Ruhe, bevor ich ihn Aug in Aug sah. Na, da ging ich denn hin. Privatlehr­er nennt er sich. Steht auch so im Wohnungsan­zeiger. Privatlehr­er Georg Warschauer. Usedomstra­ße Ecke Jasmunder Straße. Im ersten Stock ist ein Speisehaus. Frau Bobikes Mittagstis­ch, steht angeschrie­ben. Da nimmt er seine Mahlzeiten. Braucht nichts dafür zu zahlen, weil er den zwei Söhnen der Frau Bobike Stunden gibt. Im dritten Stock wohnt er. Da kommen seine Schüler zu ihm. Auch andere Leute. Unterricht­et Englisch, Französisc­h, Spanisch, Italienisc­h, Portugiesi­sch, verfaßt Nekrologe, Eingesandt­es an Zeitungen, Geschäftsr­eklamen und so. Da ging ich denn hin. Und da sah ich ihn denn.

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