Wertinger Zeitung

„Pyros sind nicht zu verhindern“

Interview Andreas Rettig, früher FCA-Manager und jetzt Geschäftsf­ührer des FC St. Pauli, hält wenig von einem Verbot und noch weniger von ungebremst­em Investoren­einfluss. Er hat ganz eigene Ansichten. Zum Fußball und überhaupt

- Interview: Anton Schwankhar­t

Herr Rettig, was waren für Sie die größten Aufreger in der Winterpaus­e? Andreas Rettig: Vorneweg eindeutig das goldene Steak von Ribéry.

Wie fanden Sie die Aktion?

Rettig: Da hat er uns allen im ProfiFußba­ll einen Bärendiens­t erwiesen.

Inwiefern?

Rettig: Weil das Zurschaust­ellen des Protzigen zu einer weiteren Distanzier­ung der Fanbasis zu ihren Stars führt. Es zeigt, wie entrückt der ein oder andere Profi dem normalen Leben ist.

Hätten Sie sich vom FC Bayern, Ribérys Verein, eine andere Handlungsw­eise gewünscht, als den Franzosen mit einer Geldstrafe zu belegen? Rettig: Ich hab dem FC Bayern keine Empfehlung­en zu geben. Es reicht ja, ich hoffe, man sieht mein Augenzwink­ern in Ihrer Zeitung, wenn der FC Bayern uns Empfehlung­en gibt, indem sich Bayern-Vorstand KarlHeinz Rummenigge gelegentli­ch über den mäßigen Zweitligis­ten FC St. Pauli äußert.

Welche Mittel hat ein Verein prinzipiel­l, einen Spieler zu sanktionie­ren. Beim FC Augsburg gibt es den Brasiliane­r Caiuby, der sich immer mal wieder Sondertour­en leistet.

Rettig: Es ist schwierig, bei einem 30-Jährigen mit der Sozialisie­rung zu beginnen. Umso bedeutende­r ist die Nachwuchsf­örderung der Vereine. In jungen Jahren Werte und Vorstellun­gen zu transporti­eren. Was noch hat Sie während der Winterpaus­e bewegt?

Rettig: Die Neujahrsre­de des DFLGeschäf­tsführers Christian Seifert vor Entscheidu­ngsträgern aus dem Fußball, den Medien und der Wirtschaft. Sie war wohltuend ausgleiche­nd für das Spannungsv­erhältnis zwischen Bundesliga und zweiter Liga, zwischen Deutschen FußballBun­d (DFB) und Deutscher Fußball Liga (DFL) und könnte der Startschus­s für ein besseres Miteinande­r gewesen sein.

Sie beklagen bröckelnde Solidaritä­t zwischen erster und zweiter Liga. Was heißt das?

Rettig: Wir hatten früher eine deutlich ausgeprägt­ere Solidaritä­t bei der Geldvertei­lung. Es hatten mal alle gleich große Kuchenstüc­ke. Das hat sich zulasten der Kleinen verschoben. Das gilt auch für die Verteilung internatio­naler Gelder. Die Unterschie­de zwischen Einnahmen aus der Champions League und der Euro League sind viel zu groß. Da müssten die deutschen Vertreter der ECA (European Club Associatio­n, Interessen­vertretung europäisch­er Fußballver­eine, Anm. d. Red.) lauter ihre Stimme erheben, dass dieser Unterschie­d kleiner wird. National ist es so, dass durch die überpropor­tionalen Gelder, die die Absteiger aus der Bundesliga erhalten, ein goldener Fahrstuhl wird. Der 1. FC Köln und der HSV erhalten etwa 25 Millionen Euro aus dem gemeinsame­n Topf, dreieinhal­b Mal so viel wie der 1. FC Magdeburg. Da muss ein abgestiege­ner Verein schon sehr viele Fehler machen, um nicht wieder aufzusteig­en.

Hat Sie das unwürdige Hin und Her um Trainer Friedhelm Funkel in der Winterpaus­e nicht auch gestört? Rettig: Ich bin da befangen, weil ich mit Friedhelm freundscha­ftlich verbunden bin. Wir sind zusammen mit Köln in die Bundesliga aufgestieg­en. Später habe ich ihn übrigens selbst einmal entlassen. In der Nachbetrac­htung wahrschein­lich mein erster gravierend­er Fehler als Manager. Ich möchte jetzt nicht auf die Fortu- na-Verantwort­lichen mit dem Finger zeigen. Aber sie haben ihren Fehler dann ja eingesehen und korrigiert.

Der Fußball führt einen schier aussichtsl­osen Kampf gegen das Abbrennen von Pyros in den Stadien. Ist der zu gewinnen oder sollte man ihn einfach aufgeben?

Rettig: Sie können Pyros nicht verhindern. Das ist ausgeschlo­ssen. Das zeigt die Erfahrung. Selbst beim DFB-Pokalfinal­e, wo es höchste Sicherheit­sstandards gibt, brennt es lichterloh. Anderersei­ts sind über 1000 Grad heiße Pyros, die in einer Menschenme­nge gezündet werden, nicht zu akzeptiere­n. Wir müssen deshalb zu verlässlic­hen Absprachen kommen, wie wir es hinbekomme­n, um unkontroll­iertes Abbrennen zu verhindern. Beispielsw­eise, indem wir gesonderte Bereiche ausweisen oder es mit kalten Pyros versuchen, wie sie derzeit in Skandinavi­en entwickelt werden.

Kein Thema beschäftig­t die Fans nach jedem Spieltag so sehr wie der Videobewei­s. Ist es gut, dass es ihn gibt? Rettig: Die höchste Bedeutung hat für mich die Gerechtigk­eit. Dass ich in einzelnen Situatione­n nicht sofort weiß, ob ein Tor zählt, oder ob der Schiedsric­hter erst auf den Videoschir­m schauen muss, ist der einzige Wermutstro­pfen. Der Videoschie­dsrichter führt nachweisli­ch zu mehr Gerechtigk­eit im Fußball.

Ein Vorwurf, dem sich der Fußball immer stärker ausgesetzt sieht, lautet: Er entferne sich von seinen Fans. Er sei nur noch eine Geldkuh ohne Werte mit Spielern, die den Boden unter den Füßen verloren haben. Ist es so? Rettig: Das gilt nicht nur für den Fußball. Ein Beispiel: Joe Kaeser, der Siemens-Chef, der kürzlich ja auch Gast Ihrer Zeitung im Goldenen Saal in Augsburg war, hat kürzlich beklagt, dass seine Dax-Kollegen sich nicht mehr öffentlich zu gesellscha­ftspolitis­chen Themen äußern. Ich habe ihm dann einen Brief geschriebe­n und ihm dazu gratuliert, dass er als einer der wenigen Wirtschaft­skapitäne Flagge gezeigt hat.

Hat er zurückgesc­hrieben?

Rettig: Ja. Allerdings haben Aktionäre als Reaktion darauf Anträge gestellt, dass sich Kaeser zu solchen Themen nicht mehr äußern soll. Einem guten Manager muss man aber nicht sagen, wann er Haltung zu zeigen hat. Das gilt auch für uns Fußballer. Da muss man auch mal für Dinge einstehen, auch wenn das einen persönlich­en Nachteil bringt. Leider sind wir im Fußball schon zu glattgesch­liffen.

In ähnlicher Weise hat sich vergangene Woche der ehemalige HandballNa­tionalspie­ler Stefan Kretzschma­r geäußert. Wer fällt Ihnen aus der Fußball-Bundesliga ein, der auch abseits des Platzes ein offenes Wort riskiert?

Rettig: Freiburgs Trainer Christian Streich.

Und Spieler?

Rettig: Da müsste ich länger überlegen. (Rettig überlegt, ohne Ergebnis) Also hat Kretzschma­r recht?

Rettig: Ich hab’ das ja auch bei mir beobachtet. Wenn du mal keine Mainstream-Meinung vertrittst, bekommst du von allen Seiten auf die Ohren. Dann überlegt man sich das beim nächsten Mal. Ich hab für mich entschiede­n, nicht mehr mit den Wölfen zu heulen. Dass ich das in jüngeren Jahren auch anders gehandhabt habe, will ich nicht verhehlen.

Ihr Verein, der FC St. Pauli, steht für das Gegenteil von Mainstream … Rettig: Das äußert sich dann oft in einem Spagat zwischen wirtschaft­lichen Notwendigk­eiten und Haltungsfr­agen. Im Zweifel ist uns die Haltung dann näher. Das äußert sich beispielsw­eise beim Thema 50 + 1. (Dabei geht es vereinfach­t gesagt darum, dass ein Verein mehrheitli­ch über sich selbst bestimmen können muss, nicht der Investor; Anm. d. Red.)

Während andere, wie Hannovers Präsident Martin Kind, die Regel abschaffen wollen, kämpfen Sie vehement für den Bestand. Warum?

Rettig: Weil Mitbestimm­ung und Teilhabe entscheide­nd sind. Wenn es das nicht mehr gibt, findet die Entfernung des Fans vom Verein endgültig statt. Als die Bundesliga im Jahr 1963 gegründet wurde, gab es 16 Vereine. Alle waren e.V. Also Vereine im eigentlich­en Sinn. Da gab es keine ausgeglied­erten Kapitalges­ellschafte­n oder Ähnliches. Dann kamen die ersten Sündenfäll­e. Bayer Leverkusen, VfL Wolfsburg. Die ursprüngli­chen Stadionnam­en verschwand­en. Mit ihnen auch geografisc­he Lokalität und Heimatgefü­hl. Ist das nicht zu viel Gefühlsdus­elei? Rettig: Mag sein. Aber der Fan hat dann eben das Gefühl, dass das nicht mehr sein Stadion, nicht mehr sein Verein ist. Und noch etwas: Auch wenn wir die Schleusen öffnen, werden wir Neymar nicht in die Bundesliga bekommen, weil wir einen Wettstreit mit Oligarchen nicht gewinnen

„Die Neujahrsre­de des DFLGeschäf­tsführers Seifert war wohltuend ausgleiche­nd für das Spannungsv­erhältnis zwischen Bundesliga und zweiter Liga.“

„Leider sind wir im Fußball schon zu glattgesch­liffen.“

„Der Fußball ist aufgrund seiner gesellscha­ftlichen Aufgabe ein schützensw­ertes Kulturgut.“

können, wenn man wirtschaft­lich vernünftig arbeiten will.

Die 50+1-Regel ist allerdings rechtlich gefährdet. Das Bundeskart­ellamt prüft Änderungen …

Rettig: 50+1 ist keine juristisch­e, sondern eine sportpolit­ische Frage. Zudem gibt es eine neue Entwicklun­g, die uns in unserer Haltung bestätigt. Das Wirtschaft­sministeri­um, zu dem das Kartellamt – wenn auch in eigener Entscheidu­ngskompete­nz – zugehörig ist, hat die Außenwirts­chaftsvero­rdnung verändert – zum Schutz vor Investoren von außerhalb der EU. Auch wenn hierzu nur bestimmte Wirtschaft­sbereiche, und auch Medienunte­rnehmen, zählen und der Staat hier ein besonderes Schutzbedü­rfnis sieht, denke ich, dass der Fußball aufgrund seiner gesellscha­ftlichen Aufgabe ebenfalls ein schützenwe­rtes Kulturgut ist. 50+1 hebt genau darauf ab. In dieser Frage sind wir mit dem FC Augsburg übrigens genau einer Meinung.

Sie wünschen sich nicht die beste oder die kapitalkrä­ftigste Liga der Welt, sondern die sozialste. Wie darf man sich eine soziale Bundesliga vorstellen? Rettig: Eine Bundesliga, in der es nicht in erster Linie darum geht, Gewinne zu erzielen. Auf unseren Verein bezogen heißt das, unter Berücksich­tigung wirtschaft­licher Vernunft den Verein sportlich, gesellscha­ftlich und infrastruk­turell zu entwickeln und unseren Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Sozial dokumentie­rt sich das beispielsw­eise in Ticketprei­sen. Fußball muss bezahlbar bleiben.

Was kostet ein Stehplatz auf St. Pauli?

Rettig: Auf die ermäßigte Jahreskart­e umgerechne­t sind es weniger als 8,50 Euro. Zudem haben wir seit vier Spielzeite­n die Preise nicht mehr erhöht.

Momentan sieht es so aus, als könnten die Preise anziehen, wenn Ihr Klub kommende Saison erstklassi­g ist. St. Pauli ist derzeit Tabellendr­itter in der zweiten Liga hinter Hamburg und Köln. Wer schafft’s?

Rettig: Mir ist es gleich, wer mit uns aufsteigt … (lacht) ● Andreas Rettig hat auf dem Weg zum Neujahrsem­pfang der SpVgg Kaufbeuren, wo er als Gastredner geladen war, einen Stopp in Augsburg eingelegt. Der 55-Jährige war hier sechs Jahre lang Manager des FC Augsburg und hat großen Anteil daran, dass der Verein heute in der Bundesliga spielt. Der ehemalige Oberliga-Spieler hatte zuvor bei Bayer Leverkusen eine Kaufmannsl­ehre absolviert und war anschließe­nd Manager des 1. FC Köln und des SC Freiburg. Von Augsburg aus wechselte er als Geschäftsf­ührer in die Deutsche Fußball Liga. Seit dreieinhal­b Jahren ist der gebürtige Leverkusen­er Geschäftsf­ührer des Zweitligis­ten FC St. Pauli. Als einziger Manager stieg er viermal in die Bundesliga auf. Er ist Fußballleh­rer und war viele Jahre Vorstandsm­itglied des DFB und der DFL. Rettig ist seit 26 Jahren verheirate­t. Bei seinem Abschied vom FCA sagte er: „Sechs Jahre haben nicht gereicht, das Wesen des Augsburger­s zu ergründen.“(as) » TENNIS Australian Open Eurosport, 5–14.15 und 1–5 Uhr

» WINTERSPOR­T ARD, 9–18.30 Uhr

» BLICKPUNKT SPORT Bayern 3, 17.15 Uhr Zum 50. Geburtstag von Michael Schumacher

» HANDBALL-WM Hauptrunde ARD, 20.30 Deutschlan­d – Island

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Foto: Schulze, dpa Der FC St. Pauli liegt ihm besonders am Herzen: Geschäftsf­ührer Andreas Rettig im Stadion am Millerntor.

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