Wertinger Zeitung

Das Tal durchschri­tten, den Blick gen Gipfel

Handball-WM Der Enttäuschu­ng gegen Russland folgte das beste Spiel seit Jahren. Nun: Umzug nach Köln, noch mehr Fans und der feste Glaube daran, aus den Fehlern der Vergangenh­eit gelernt zu haben. Die deutsche Mannschaft ist bereit, Geschichte zu wiederho

- VON ARNE WOHLFARTH ARD)), Frankreich – Spanien – Island

Berlin Tolle Fotos waren das. Klatschnas­se Handballer in Schlauchbo­oten. Mutig hatten sie sich eine Raftingstr­ecke hinunterst­ürzt, sich gegenseiti­g geholfen, zusammenge­arbeitet und den reißenden Fluss gebändigt. Das war im Sommer. In Japan. Während eines Trips, der anfangs nicht bei jedem Nationalsp­ieler Begeisteru­ngsstürme hervorrief. Der eine oder andere hätte die zehn Tage direkt im Anschluss an eine strapaziös­e Saison lieber mit der Familie verbracht. Doch jetzt, über ein halbes Jahr später, spüren die deutschen Handballer, dass damals etwas gewachsen ist, auf das sie jetzt zurückgrei­fen können: ein neuer Zusammenha­lt.

Als am Montagaben­d für ein paar Stunden der Winter Einzug in Berlin hält, fährt die deutsche Mannschaft in ihrem schwarzen Bus schlecht gelaunt durch die Bundeshaup­tstadt. Das liegt weniger an den kühlen Temperatur­en und den glatten Straßen als vielmehr an der Leistung, die sie kurz zuvor in der Arena am Ostbahnhof abgeliefer­t hat. 22:22 gegen Russland. Ein Rückschlag bei dieser Heim-Weltmeiste­rschaft, die gerade durch den überragend­en 34:21-Erfolg zwei Tage zuvor gegen Brasilien an Schwung aufnahm. Doch dann der jähe Rückschlag.

Denn die Russen gehören längst nicht mehr zur ersten Garde in ihrer Sportart. „Wir waren die traurigste­n Spieler des Turniers“, räumt Kreisläufe­r Hendrik Pekeler später ein. Jeder malt sich zu diesem Zeitpunkt aus, wie trostlos sich diese WM fortsetzen könnte, wenn das Team des Gastgebers mit der Hypothek von drei Minuspunkt­en in die Hauptrunde starten würde. Dann wäre eine Medaille kaum noch realistisc­h. Denn die eigentlich­e Prüfung in der ersten Gruppenpha­se wartet zu diesem Zeitpunkt ja noch. 26 Stunden später. Gegen Frankreich, den Titelverte­idiger.

Es gibt eine kurze Analyse, aber kein Klagen, keine gegenseiti­gen Schuldzuwe­isungen, sondern ein Gemeinsinn. „Wir haben uns zusammenge­rappelt“, erklärt Paul Drux. Die Nationalsp­ieler liefern gegen die Franzosen eine Leistung ab, die nicht nur Bob Hanning, den Vizepräsid­enten des Deutschen Handball-Bundes, etwas staunend zurückläss­t. „Das war das beste Spiel in den vergangene­n zwei Jahren“, frohlockt der starke Mann des deutschen Handballs angesichts des 25:25. Dass der Ausgleich, wie auch schon gegen Russland, erst in den Schlusssek­unden fällt, verkommt zur Randnotiz. Hervorgeho­ben wird vielmehr: Das erste Tal bei diesem Turnier ist durchschri­tten. „Das hat uns zusammenge­schweißt“, betont Drux am Donnerstag nach dem 31:23 zum Abschluss der tollen Tage von Berlin gegen Serbien – dem dritten Sieg im fünften Spiel.

„Wir haben Stresssitu­ationen gemeinsam bewältigt“, freut sich Bundestrai­ner Christian Prokop, wobei der 40-Jährige seit Wochen das Wort „gemeinsam“so gerne betont. Vor einem Jahr in Kroatien hat er erlebt, wie seine Truppe zusammenfi­el, wie es Grabenkämp­fe gab, wie er den Zugang zu den Spielern mit jedem Tag mehr verlor. Das lag an ihm, an der Mannschaft, an den Verantwort­lichen, die sich alle treiben ließen. Jeder in eine andere Richtung. Eine Mannschaft war das nur noch auf dem Papier. In Wahrheit trug eine Ansammlung von Kleingrupp­en das gleiche Trikot.

Ein Jahr später ist das anders. „Alle haben brutal an sich gearbeitet“, findet Hanning. Ob innerhalb eines Jahres die große Liebe zwischen Spielern und Trainer ausgebroch­en ist, vermag niemand zu beurteilen. Die braucht es auch gar nicht. Aber es hat sich wieder eine bestens funktionie­rende Einheit gebildet, die natürlich durch den Faktor des Heimturnie­rs mit seiner besonderen Stimmung gleicherma­ßen zusammenge­halten wie angetriebe­n wird.

Statt Tristesse, wie vor einem Jahr in Kroatien, herrscht Euphorie. Der WM-Traum lebt – was auch damit zusammenhä­ngt, dass das Remis gegen Russland nicht mehr in der Wertung ist. Der Olympiasie­ger von 2000 hat die Hauptrunde verpasst, weil er gegen Brasilien verlor.

Mit 3:1 Punkten reist die deutsche Mannschaft aus Berlin ab. Bestens gelaunt steigen die Spieler in den Flieger Richtung Köln. An diesem Samstag wartet die Aufgabe gegen Island (0:4 Zähler, 20.30 Uhr,

am Montag folgt die Partie gegen Kroatien (4:0), am Mittwoch gegen Europameis­ter Spanien (2:2). Wer die Franzosen über weite Strecke dominiert, der muss vor diesen drei Mannschaft­en keine Angst haben. Schon gar nicht, wenn ihm die Unterstütz­ung von fast 20000 Zuschauern sicher ist. In Berlin waren es 13 500.

Nach dieser Vorrunde ist klar: Dem Gastgeber ist alles zuzutrauen. Positiv wie negativ. Die Defensive imponiert. 22 Gegentreff­er sind es bislang im Schnitt. Das ist ein überragend­er Wert. Im Angriff fehlt dagegen noch die Selbstvers­tändlichke­it. Um es tatsächlic­h ins Halbfinale nach Hamburg zu schaffen, braucht es in der Offensive besondere Momente. So wie die von Martin Strobel und Fabian Wiede gegen Frankreich, die beide urplötzlic­h explodiert­en. Oder einen von Steffen Fäth, der das Potenzial dazu in sich trägt, es bislang aber lediglich angedeutet hat.

Dieses Team hat einen Plan, der stark an das Wintermärc­hen von vor drei Jahren erinnert. Diese Abwehrstär­ke und dieser Teamgeist führte die einstigen „Bad Boys“2016 bei der EM in Polen ganz nach oben. „Bad Boys“nennen sie sich heute nicht mehr. Die sind in Kroatien auf der Strecke geblieben. „Bad Boys“brüllen sie auch nicht mehr. Der neue Schlachtru­f heißt „Ganbaru“das bedeutet „sein Bestes geben“und ist japanisch.

HAUPTRUNDE, GRUPPE 1

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Foto: Soeren Stache, dpa Trainer Christian Prokop (links) schonte gegen Serbien zahlreiche seiner Stammkräft­e, darunter Uwe Gensheimer und Andreas Wolff. Weil auch die zweite Reihe überzeugte, sind die Aussichten nicht schlechter geworden.

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