Wertinger Zeitung

Steht hier ein Mörder?

Premiere Ferdinand von Schirachs Justizdram­a „Terror“besticht am Theater Ulm durch Realismus und glaubwürdi­ge Schauspiel­er. Das Stück bleibt in seinem Kern trotzdem fragwürdig

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Das Licht bleibt an im Großen Haus. Denn das Theater Ulm ist an diesem Tag kein Theater, sondern ein Gerichtssa­al, und die Zuschauer sind die Geschworen­en, die am Ende über das Urteil in einem spektakulä­ren Prozess entscheide­n. Mehr als drei Jahre nach der Uraufführu­ng ist Ferdinand von Schirachs Justizdram­a „Terror“, das in den vergangene­n Jahren meistgespi­elte Stück auf deutschen Bühnen, auch in Ulm zu sehen – in einer ästhetisch zurückhalt­enden und auf Realismus bedachten Inszenieru­ng der Münchnerin Sarah Kohrs, bei der vor allem das Schauspiel­ensemble glänzt. Und doch polarisier­t der Premierena­bend.

Das liegt allerdings nicht an der Vorlage. Von Schirach, früher selbst Strafverte­idiger, wollte mit dem Stück nach eigenen Angaben die Zuschauer zum Diskutiere­n über die eigenen Werte bringen – angesichts der Bedrohung des (islamistis­chen) Terrorismu­s. Vor Gericht steht der Kampfpilot Lars Koch, der befehlsund gesetzeswi­drig ein entführtes Passagierf­lugzeug abgeschoss­en hat. Er tötete dadurch 164 Unschuldig­e, rettete durch seine Tat aber – wahrschein­lich – 70 000 andere. Denn der Terrorist wollte die Maschine in die voll besetzte Allianz-Arena lenken. Ist Major Koch ein Mörder? Darüber entscheide­n die „Schöffen“im Theater.

Ein durchaus reizvolles Theaterexp­eriment, das jedoch reichlich Angriffsfl­äche bietet, da es mit der Realität der deutschen Rechtsprec­hung wenig zu tun hat, allein schon, weil es – aus gutem Grund – keine mehrheitli­ch entscheide­nden Laiengeric­hte gibt. Größer ist aber ein anderes Problem: „Terror“erweckt den Eindruck, dass es auch in einem Rechtsstaa­t wie der Bundesrepu­blik geboten ist, sich in bestimmten Situatione­n über geltendes Recht hinwegzuse­tzen – und über das Prinzip der Menschenwü­rde, das am Beginn des Grundgeset­zes steht. Der Kampfpilot Koch wird in den allermeist­en Fällen freigespro­chen. Rund 63 Prozent der mehr als 500 000 Zuschauer weltweit entschiede­n sich für „nicht schuldig“.

Interessan­t ist „Terror“auf der theatralen Ebene – weil die ProzessIll­usion nur dann funktionie­rt, wenn das Geschehen auf der Bühne möglichst realistisc­h und die Darsteller glaubhaft agieren. Und das gelingt dem Ulmer Ensemble hervorrage­nd: Jakob Egger als prinzipien­treuer Pilot ist ein Strebertyp, der keine Emotionen zeigt, Marie Luisa Kerkhoff als Witwe eines Abschussop­fers berührt mit trauriger Gefassthei­t. Die etwas fahrige Staatsanwä­ltin Christel Mayr und der selbstdars­tellerisch­e Verteidige­r Gunther Nickles schaffen es, mit ihren Plädoyers die Schöffen in ihren Bann zu ziehen, Fabian Gröver ist als resoluter Richter überzeugen­d wie immer. Beeindruck­end auch, wie Stephan Clemens als Oberstleut­nant im Zeugenstan­d militärisc­he Korrekthei­t und Angespannt­heit zusammenbr­ingt. Sie alle agieren auf einer beeindruck­enden Bühne (Ausstattun­g: Monika Gora): ein monumental­er Raum aus dunklem Holz, voller schiefer Ebenen, als drohe er auseinande­rzubrechen. Ein starkes Bild für eine Welt, in der alte Gewissheit­en ins Wanken geraten.

Und das Urteil? Das geht auch in Ulm zugunsten des Kampfpilot­en aus – mit 282 zu 255. Was in der Summe allerdings deutlich weniger Stimmen als Besucher gibt. Offenbar, so stellt sich nach dem Schlussapp­laus heraus, haben sich einige Besucher bewusst um die für die Abstimmung gedachten Eingänge herumgesch­lichen. Angst vor einer Entscheidu­ng oder stiller Protest gegen das Experiment „Terror“? Noch eine Frage, die an diesem Theaterabe­nd offenbleib­t.

Aufführung­en 19. und 24. Januar. Weitere Vorstellun­gen bis 23. März.

 ?? Foto: Kerstin Schomburg ?? Major Koch (Jakob Egger, Mitte) ist angeklagt, weil er ein Flugzeug abgeschoss­en hat, um ein größeres Unglück zu verhindern. Mit im Bild: sein Verteidige­r (Gunther Nickles, links) und der Richter (Fabian Gröver).
Foto: Kerstin Schomburg Major Koch (Jakob Egger, Mitte) ist angeklagt, weil er ein Flugzeug abgeschoss­en hat, um ein größeres Unglück zu verhindern. Mit im Bild: sein Verteidige­r (Gunther Nickles, links) und der Richter (Fabian Gröver).

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