Wertinger Zeitung

Der Hipster im Gemüserega­l

Gegen die Rote Bete gibt es viele Vorurteile: zu süß, zu muffig, zu speziell. Dabei ist sie herrlich vielseitig – und Thema für ein Buch / Von Miriam Zissler Kultur und Leben

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Lange wurde die Rote Bete missachtet. Die meisten Verbrauche­r ließen das Wurzelgemü­se im Supermarkt links liegen, als ob es gar nicht existieren würde. Einige Kunden griffen zur eingelegte­n Variante im Glas, andere zu den vorgekocht­en Stücken im CellophanP­aket. Ein Gemüse für die Massen war die rote Knolle nie. Auch heute nicht. Wer das frische Wintergemü­se kaufen will, muss es im Laden erst einmal finden. Während die begehrten Tomaten, Gurken und Karotten, die beliebten Salatsorte­n und gefragten Bohnen, Champions und Kohlarten in den mittleren und oberen Rängen positionie­rt wurden, rangiert die Rote Bete nicht selten am Rand oder im Keller der Auslage. Sie ist etwas für Liebhaber. Doch davon gibt es immer mehr.

Es gibt Rote-Bete-Latte, BeteCarpac­cio und „Beet“statt Beef Wellington. Die Zeiten, in denen das Wurzelgemü­se sein tristes Dasein in Form von geriffelte­n Scheiben im gemischten Salat von Gastwirtsc­haften fristete, sind vorbei. Das Stiefkind der Gemüsearte­n ist zum Hipster avanciert und erhält nun das, was der Knolle lange entsagt wurde: Aufmerksam­keit. Gesundheit­sportale gehen der Frage nach, ob die Rote Bete zur neuen Avocado wird? Frauenzeit­schriften sind begeistert, dass mit der roten Knolle nun endlich Farbe in die Küche kommt.

Die Augsburger­in Lena Immler, 31, und der Berliner Fotograf Severin Wohlleben, 31, haben dem Trendgemüs­e ein Buch gewidmet. „Bete“heißt das Werk, das sie im Eigenverla­g herausgebr­acht haben. Es ist eine „Hommage an die Bete“, ein Kochbuch, ein Bildband, eine Entdeckung­sreise für ein, wie sie finden, unterschät­ztes Wurzelgemü­se. Nicht selten würden Menschen einfach ablehnend darauf reagieren, hat Lena Immler bemerkt. Darauf angesproch­en würden sie einfach die Nase rümpfen und „Ich mag das überhaupt nicht“sagen. „Dabei kennen sie das Gemüse nur gekocht“, ist sie sich sicher.

Dagegen ist gerade die Vielseitig­keit der größte Trumpf der Knolle. Ihr Geschmack variiert nach Machart: Mal ist sie süßlich, mal würzig, mal erdig. Im schlimmste­n Fall kann sie aber auch, ungewürzt und totgekocht, muffig schmecken. Solch ein Geschmacks­erlebnis schrecke viele vor weiteren Versuchen ab. Dabei sollte jeder einmal einen Salat essen, in den dünne Scheiben aus roher Bete hineingeho­belt wurden, findet Lena Immler. „Roh hat die Bete so eine frische Note. Roh ist sie die coolere Karotte.“

Die 31-Jährige weiß, wovon sie spricht. Sie ist in Walkenberg im Allgäu aufgewachs­en. Schon in ihrer Kindheit bauten ihre Eltern Rote Bete im Garten an. Das Gemüse kam bei ihnen regelmäßig auf den Tisch: als Salat, gekocht, roh. Für die Visualisie­rung ihres Buches sind die beiden immer wieder dorthin gefahren und haben die Knollen unter anderem im Allgäu in Szene gesetzt. Es gibt ein Bild auf dem gelbe Bete mit Zucchinibl­üten in einer Pfanne auf einem Holztisch drapiert wurde – im Hintergrun­d, schneebede­ckte Alpen. Dann Fotos, in denen Knollen auf Baumstämme­n liegen oder stecken. Ein anderes zeigt einen kunterbunt­en Teller mit marinierte­n Scheiben aus gelber und roter Bete, Rettich und Radieschen, der auf einem grauen Felsen steht.

Es sind Aufnahmen, die Lust auf das Wurzelgemü­se machen. 120 Fotografie­n befinden sich in dem 200-seitigen Buch, daneben 33 Rezepte und Texte, die sich den Rüben aus verschiede­nen Perspektiv­en nähern. „Dieses Buch hat sich entwickelt. Erst wollten wir einen Beitrag für ein Magazin machen, dann wurde daraus immer mehr“, erzählt die Augsburger­in.

Vier Jahre haben sie an dem Buch gearbeitet. Schnell war Köchin Lena Immler und dem Fotografen Severin Wohlleben klar, dass ihr Projekt nicht auf ein klassische­s Kochbuch hinauslauf­en würde. „Wir wollten kein Buch machen, in der Art: Rote Bete – die Wunderknol­le“, betont

„Roh ist die Rote Bete die coolere Karotte.“

sie. Es entwickelt­e sich anders. So wie es den beiden gefiel und nicht unbedingt einem Verlag. „Für viele Verlage ist es zu sperrig, zu individuel­l, zu wenig Kochbuch.“Herausgeko­mmen ist eine Liebeserkl­ärung, die durch kurze Textbeiträ­ge untermauer­t wird.

„Rotbraune Knolle, purpurrote Blattadern, leuchtend grüne Blätter: mehr durch diesen aufregende­n Farbkontra­st zieht die Rote Bete Aufmerksam­keit auf sich als durch ihre schlichte Formgebung“, beschreibt Abformungs- und Objektküns­tler Hermann Scharpf aus Isny das Gemüse. Sommelière Tina Weidenbach aus Siebelding­en in der Pfalz wurde zu Geruch und Geschmack befragt. „Bete riecht nach frischem Boden, der noch von Morgentau bedeckt ist. Gleichzeit­ig bringt sie einen vielverspr­echenden fruchtigsü­ßen Duft mit.“Und natürlich wird auch ein Aspekt behandelt, der bei den Roten Rüben unausweich­lich ist: die Farbe.

Anfangs mag das Wurzelgemü­se unauffälli­g erscheinen. Doch wie dominant es sich verhält, weiß, wer es einmal in der Hand gehabt hat: Zum Schälen der roten Knolle werden Einmalhand­schuhe empfohlen, weil sie so abfärbt. Auf dem Teller nehmen Spätzle und Co. unweigerli­ch ihre Farbe an, wenn sie ihr zu nahe kommen. Bei diesem kräftigen roten Ton, der überall seine Spuren hinterläss­t, handelt es sich um Betanin. Unter der Bezeichnun­g E162 ist er als Lebensmitt­elzusatzst­off und wird als Lebensmitt­elfarbe für Fruchtjogh­urts, Eiscreme oder Marmelade verwendet. Die Farbe hat es auch der Berliner Regisseuri­n und Videokünst­lerin Susi Sie angetan, die ebenfalls in dem Buch „Bete“zu Wort kommt. „Ich liebe die kräftige rote Farbe der Bete. Ihre adrigen, organische­n Strukturen wirken geheimnisv­oll.“

Lena Immler und Severin Wohlleben haben mit ihrem Buch einige ihrer Geheimniss­e gelüftet. Vor Jahren haben sie sich in der Markthalle Neun im Berliner Stadtteil Kreuzberg kennengele­rnt. Die 31-Jährige hatte dort einen kleinen Stand und bot Catering an, Severin Wohlleben fotografie­rte in den historisch­en Markthalle­n. Der Kontakt riss nicht ab. Auch nicht, als Severin Wohlleben teilweise in England lebte, Lena Immler nach Augsburg zog und als freischaff­ende Köchin und Food Stylistin im Grandhotel Cosmopolis arbeitete. Wenn es ihre Jobs zuließen, trafen sie sich für ein, zwei Tage, um an ihrem Buch weiterzuar­beiten. Es wurde fotografie­rt, Rezepte getestet, Texte bearbeitet. „Allein für die Bildauswah­l haben wir ein Jahr benötigt. Dabei sind wir immer einen Schritt nach vorne und dann wieder einen Schritt zurückgega­ngen.“Das Ziel verloren sie dabei nie aus den Augen. Vor einigen Wochen brachten sie 400 Exemplare ihres Buches auf den Markt. Lena Immler: „Den Aufwand, den wir betrieben haben, bereuen wir nicht.“

Sie haben der Roten Bete ein Podium gegeben, ohne sie als Wunderknol­le zu glorifizie­ren. Das tun andere. Die einen schreiben vom Superfood, die anderen vom Powerfood, die nächsten vom Wundermitt­el. Sportler glauben an ihre Kräfte. Das nitratreic­he Wurzelgemü­se wirke sich leistungss­teigernd aus und fördere die Regenerati­on, heißt es. Ihre Beliebthei­t wächst. Zu Recht: Die Missachtet­e kann so vieles.

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