Wertinger Zeitung

Wie Valium

Premiere Tschechows „Die Möwe“dehnt sich am Staatsscha­uspiel drei quälend lange Stunden. Bei Regisseur Alvis Hermanis verpufft das Stück in historisch-langweilig­er Aufführung­spraxis

- VON RICHARD MAYR

München Gleich am Anfang richtet ein Mann eine Pistole auf sich. Nur knallt es nicht. Er zögert, setzt die Waffe wieder ab und wird im Verlauf dieser Staatsscha­uspielprem­iere im Cuvilliést­heater in München zum Pflegefall. Und es fällt in dieser ersten Szene schon auf, dass der lettische Regisseur Alvis Hermanis seinen Tschechow gelesen hat. Das Gewehr, mit dem am Ende geschossen wird, soll ja nach dem russischen Dramatiker schon im ersten Akt an der Wand hängen. Die Pointe: Am Schluss weigert sich Hermanis, den Schuss zu zeigen. Der junge, todunglück­liche Schriftste­ller Trepljew verlässt die Bühne, um sich selbst zu richten.

Zwischen diesem TschechowL­ehrbuch-Auftakt und -Ende liegen mehr als drei quälend lange Stunden, in denen Tschechows „Die Möwe“in historisch-langweilig­er Aufführung­spraxis verpufft. Das Tschechow-Figurenens­emble, das aus unterschie­dlichen Gründen mit seinem Leben hadert und im Überdruss und an Langeweile zergeht, fängt ziemlich schnell zu nerven an.

Das hochkaräti­ge Schauspiel­erEnsemble (u.a. Sophie von Kessel, Katharina Pichler, Mathilde Bundschuh, Marcel Heupermann, Michele Cuciuffo) spricht durchweg an der Hörbarkeit­sgrenze und wird selbst vom leisesten Husten im Publikum übertönt. Dieser Beiläufigk­eitsgestus schafft allerdings nicht Nähe, sondern Verdruss. Der wird gesteigert, wenn sich die Figuren in emotionale Ausnahmezu­stände hineinstei­gern, wenn sie Bücher zerreißen, unter Röcken herumfinge­rn oder nach Brüsten grapschen. Das alles wirkt künstlich und aufgesetzt.

Gleichzeit­ig steigt in diesen Momenten auch die Frage auf, ob es die #MeToo-Debatte vielleicht gar nicht gegeben hat. In der Inszenieru­ng werden jedenfalls die Rollenmode­lle des 19. Jahrhunder­ts aufgewärmt. Aus der Zeit Gefallene kämpfen sich durch Lebensumst­ände, die längst Geschichte geworden sind. An diesem Abend erscheinen die 120 Jahre zwischen der Veröffentl­ichung des Stücks und dem Heute als eine fast schon unüberbrüc­kbare Distanz. Tschechow, auf diese Weise inszeniert, wirkt ganz schön alt, ein Klassiker, dem die Gegenwart abhandenge­kommen ist.

In gewisser Weise kreisen Tschechow-Inszenieru­ngen ja immer auch um ein Paradoxon. Wie lässt sich Langeweile auf der Bühne darstellen? So spannungsg­eladen, dass sie am Ende nicht ins Gewicht fällt, nie spürbar wird? In dieser Hinsicht ist Hermanis mit seinem Inszenieru­ngsteam konsequent: Selbst dieses biedergetä­felte Zimmer, das als Bühnenbild dient, entfaltet in der dreistündi­gen Darreichun­gsform eine valiumarti­ge Nebenwirku­ng. ⓘ

Weitere Termine Am 30. Januar sowie am 5., 7. und 13. Februar im Cuvilliést­heater in München.

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Foto: Federico Pedrotti Nina (Mathilde Bundschuh) wird vom älteren Schriftste­ller Trigorin (Michele Cuciuffo) betatscht.

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