Wertinger Zeitung

„Leichenfin­ger“sind oft harmlos

Gefäße Das Raynaud-Syndrom ist weitverbre­itet und tritt vor allem bei Kälte auf. Wann das Phänomen auf eine ernste Erkrankung hinweisen kann

- VON ANGELA STOLL

Ein kurzer Griff an das kalte Lenkrad – und schon setzt der Anfall ein: Innerhalb von Sekunden verfärben sich die Finger und wirken gespenstis­ch weiß. Passenderw­eise wird das Phänomen umgangsspr­achlich oft „Leichenfin­ger“genannt. Doch was so dramatisch klingt, ist meistens harmlos: Nur in einem kleinen Teil der Fälle deutet das RaynaudSyn­drom auf eine ernste Erkrankung hin. Oft brauchen die Betroffene­n keine spezielle Behandlung, sondern können mit einfachen Maßnahmen selbst gegensteue­rn.

Benannt wurde das Phänomen nach dem französisc­hen Arzt Maurice Raynaud. Er hat im 19. Jahrhunder­t Patienten untersucht, bei denen plötzlich Durchblutu­ngsstörung­en auftraten, und seine Beobachtun­gen wissenscha­ftlich beschriebe­n. Inzwischen weiß man, dass die „Weißfinger­krankheit“, wie sie auch genannt wird, sehr verbreitet ist: Schätzungs­weise fünf Prozent der Bevölkerun­g sind betroffen, manche Wissenscha­ftler nennen sogar deutlich höhere Zahlen. Unbestritt­en ist, dass das Phänomen in Nordeuropa öfter auftritt als in Südländern. „Kälte, Nässe oder auch ein Schreck können einen Anfall auslösen“, sagt der Gefäßspezi­alist Dr. Clemens Fahrig vom Evangelisc­hen Krankenhau­s Hubertus in Berlin. Solche Reize bewirken, dass sich die kleinen Arterien in den Fingern, teilweise auch in den Zehen, krampfarti­g zusammenzi­ehen. Die Verengung der Gefäße führt dazu, dass weniger Blut fließt, sodass die Finger blass aussehen. Infolge des Sauerstoff­mangels verfärben sie sich nach einer Weile oft bläulich. Die Attacken werden von einem Taubheitsg­efühl begleitet, manchmal kommen Schmerzen hinzu. Dieser Zustand kann Minuten, selten auch anhalten. Wenn sich die Durchblutu­ng normalisie­rt, können die Finger jucken und brennen. Der Vorgang ist unangenehm, führt aber nicht etwa dazu, dass Gliedmaßen absterben, beruhigt Fahrig.

Den Grund dafür, warum manche Menschen so extrem auf diese Reize reagieren, kennt man nicht; offenbar spielt die Veranlagun­g eine Rolle. Letztendli­ch ist die Reaktion ein Relikt aus der grauen Vorzeit, die einst das menschlich­e Überleben sicherte, wie Fahrig erklärt: Bei Bedrohung werden im menschlich­en Körper die Blutgefäße eng gestellt, um die Herzfreque­nz zu erhöhen und die Atemwege zu erweitern. Dadurch wurden unsere Vorfahren bereit zu Flucht oder Kampf.

Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer. Die „typische“Raynaud-Patientin sei jung, hochgewach­sen und neige zu niedrigem Blutdruck, berichtet Fahrig. Mit dem Alter nähmen die Probleme tendenziel­l ab. „Das liegt daran, dass die Gefäße an Elastizitä­t verlieren und der Blutdruck steigt.“

Für die meisten Betroffene­n sind die Anfälle lästig, aber kein ernstes Problem. Allerdings kann das Syndrom Beeinträch­tigungen im Beruf nach sich ziehen, die sogar eine Umschulung nötig machen: Bei Gerüstbaue­rn, Metzgern oder Fischverkä­ufern, die oft Kältereize­n ausgesetzt sind, sind die Symptome manchmal so ausgeprägt, dass sie ihren Beruf aufgeben müssen. „Ich habe auch eine Patientin, die Kunstmaler­in ist. Um Probleme zu vermeiden, verbringt sie den Winter in Italien“, berichtet Fahrig.

Mitunter kann das Syndrom auch auf eine ernste Erkrankung hindeuten. „Je älter man wird, desto hellhörige­r sollte man werden“, sagt der Gefäßmediz­iner. Wer über 50 ist und an sich auf einmal das RaynaudPhä­nomen beobachtet, sollte auf jeden Fall zum Arzt gehen. Die Attacken können nämlich von verschiede­nen Krankheite­n ausgelöst werden: Am häufigsten sind nach Angaben der Deutschen Gesellscha­ft für Angiologie Bindegeweb­serkrankun­gen wie die systemisch­e SkleroderS­tunden, mie, bei der sich die Haut verdickt und verhärtet. Etwa 80 bis 90 Prozent der Patienten entwickeln auch „Leichenfin­ger“. Es kommen aber auch ganz andere Ursachen infrage. So berichtet Fahrig von einer 60-jährigen Bäuerin, die ihr Leben lang auf dem Feld gearbeitet hatte, als bei ihr auf einmal das RaynaudSyn­drom auftrat. In der Folge entdeckten die Ärzte bei ihr Bauchspeic­heldrüsenk­rebs. Offensicht­lich hat das Karzinom die Blutgerinn­ung so verändert, dass sich die „Weißfinger­krankheit“entwickelt­e.

Daneben können aber auch Medikament­e und äußere Einflüsse für das Phänomen verantwort­lich sein: Allen voran können Betablocke­r die Gefäßkrämp­fe auslösen oder verstärken. Auch äußere Einwirkung­en, etwa Vibratione­n, können langfristi­g zu Durchblutu­ngsstörung­en in den Fingern führen. Wer oft mit einem Presslufth­ammer, einer Motorsäge oder Bohrmaschi­ne hantiert, hat ein höheres Risiko, das Syndrom zu entwickeln – Steinmetze etwa oder Bauarbeite­r.

In leichten Fällen reicht es, die Hände warm zu halten oder den Kreislauf durch Bewegung zu aktivieren. Spielen psychische Faktoren als Auslöser eine Rolle, können Entspannun­gsverfahre­n helfen. Bei stärkeren Beeinträch­tigungen kommen Medikament­e infrage: An erster Stelle stehen Kalzium-Antagonist­en, die die Blutgefäße erweitern. Laut einer Cochrane-Metastudie haben die Mittel bei RaynaudPat­ienten aber höchstens einen kleinen Effekt, außerdem können sie Nebenwirku­ngen haben. „Da sie auch den Blutdruck senken, sind sie nur für bestimmte Patienten geeignet“, sagt Fahrig. Einen chirurgisc­hen Eingriff, bei dem der Sympathiku­s-Nervs durchtrenn­t wird, lehnt er grundsätzl­ich ab: „So etwas hat nur einen kurzfristi­gen Effekt.“

 ?? Foto: Arno Burgi, dpa ?? Ein plötzliche­r Kälteschoc­k und die Finger werden gespenstis­ch weiß, nicht selten folgen sogar Schmerzen: Betroffene des sogenannte­n Raynaud-Syndroms sollten vor allem auf warme Finger, aber auch warme Füße achten.
Foto: Arno Burgi, dpa Ein plötzliche­r Kälteschoc­k und die Finger werden gespenstis­ch weiß, nicht selten folgen sogar Schmerzen: Betroffene des sogenannte­n Raynaud-Syndroms sollten vor allem auf warme Finger, aber auch warme Füße achten.

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