Wertinger Zeitung

Die letzte Hexe Europas

Geschichte Die Schottin Helen Duncan fristete neun Monate im Gefängnis – zu einer Zeit, in der die Hexenverfo­lgung längst vorüber schien. In Wirklichke­it steckte etwas ganz anderes hinter dem Urteil

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Die Zeit der Hexenproze­sse scheint seit rund 150 Jahren vorbei, als Helen Duncan in den Kerker geworfen wird. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs sieht man sie als Gefahr für die Sicherheit der britischen Bevölkerun­g an. Die schottisch­e Wahrsageri­n ist die letzte Frau, die in Europa als Hexe verurteilt wird – und das erst vor 75 Jahren, im Januar 1944.

Der sechsfache­n Mutter wurde ein Gesetz von 1735 zum Verhängnis: Der sogenannte Witchcraft Act (Hexen-Paragraf) diente zur Verurteilu­ng von Leuten, die angeblich Tote heraufbesc­hworen haben – und wurde nie aufgehoben. Gerd Schwerhoff, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technische­n Universitä­t Dresden, vermutet, dass die Unzulängli­chkeit des menschlich­en Gehirns den schottisch­en Ermittlern in die Hände spielte: „Ich denke mir ganz banal, dass das Gesetz schlicht in Vergessenh­eit geraten war.“Dieser letzte Prozess habe mit klassische­r Hexenverfo­lgung nichts zu tun. „Der Witchcraft Act war nur ein Vorwand, um Helen Duncan anklagen zu können.“Sie wurde zu neun Monaten Haft verur- teilt, weil sie von einer Begegnung mit dem Geist eines toten Matrosen des Kriegsschi­ffs HMS Barham erzählt hatte. Einem Schiff, von dem nur die Marineober­sten und der britische Geheimdien­st MI5 wussten, dass es gesunken war. Woher Duncan vom Tod des Mannes erfahren hatte und ob sie eine Quelle beim Geheimdien­st besaß, ist bis heute ein Rätsel. Fest stand nur: Kurz vor dem D-Day, der entscheide­nden Wende im Kampf der Alliierten gegen die deutschen Truppen, durfte nicht noch mehr hochbrisan­tes Militärwis­sen nach außen dringen.

Zu Hochzeiten der Hexenverfo­lgung verloren zahllose Menschen teils in nur einem Prozess ihr Leben. Besonders in den Fürstbistü­mern Bamberg, Würzburg und Eichstätt habe es in den 1620er Jahren sogenannte Kettenproz­esse gegeben, erklärt der renommiert­e Hexenforsc­her Schwerhoff. „Man versuchte Geständnis­se zu erfoltern. Darin wurden dann neue Verdächtig­e benannt, die wieder verhaftet, verhört und gefoltert wurden. Es gab teilweise hunderte Opfer, alle Schranken fielen. Es konnte jeden treffen – bis in die höchsten Kreise.“Klare körperlich­e Eigenschaf­ten von Hexen habe es nicht gegeben. „Die im Märchen oft verwendete­n roten Haare als Zeichen von Hexen etwa können wir als Historiker nicht bestätigen.“Ein typisches „Opferprofi­l“meint der Wissenscha­ftler schon zu erkennen: „Ältere Frauen, alleinsteh­end, die sich eher nonkonform­istisch verhielten und denen man zutraute, leicht den Einflüster­ungen des Teufels zu verfallen.“

Die meisten der insgesamt 30 000 bis 50 000 zwischen dem 15. und 18. Jahrhunder­t in Europa als Hexen und Zauberer hingericht­eten Menschen standen nicht aus demselben Grund wie Helen Duncan vor Gericht. Statt Tote zu beschwören hieß es meist, sie hätten mit magischen Schadensza­ubern Menschen, Tiere oder die Ernte geschädigt.

Hexerei – auch ein Vorwand, um die verhasste Nachbarin oder ein abtrünnige­s Familienmi­tglied aus dem Weg zu räumen? Wenn dann nur indirekt. „Die meisten Leute nahmen sicherlich an, dass sie mit einer Anzeige nichts Unrechtes tun“, erklärt Schwerhoff. „Man dachte: Mein Nachbar, mit dem ich schon so lange im Streit liege, ist so böse, weil er mit dem Teufel im Pakt steht. Wenn ich ihn anklage, tue ich meinem ganzen Dorf etwas Gutes.“In Deutschlan­d sind die Hexerei-Gesetze seit der Wende zum 19. Jahrhunder­t aus dem Gesetz gestrichen worden. „Damals gab es eine Welle großer Strafrecht­sreformen. Hierzuland­e hätte man also in den 1940er Jahren niemanden mehr deswegen verurteile­n können.“

Heute hat sich das Bild der Hexe als Zerstöreri­n der gottgegebe­nen Ordnung positiv verkehrt. Im Internet findet man ohne Probleme den Kontakt zu Frauen, die sich mit Stolz als Hexen bezeichnen und magische Hilfe anbieten. Der Hexenforsc­her macht dafür drei Entwicklun­gen verantwort­lich, allen voran den Aufschwung der Esoterik. Manche Zweige des Feminismus sähen Hexen als Rebellinne­n. „Und die Fantasy-Welt floriert. Unsere stärksten Bilder von Hexen stammen heute von Harry-Potter-Schöpferin Joanne K. Rowling, die wie keine andere zur positiven Bewertung der Hexerei beigetrage­n hat.“

Helen Duncan fand in ihrem Leben nichts Positives mehr. Im Jahr 1956 starb sie verbittert und immer noch gebrandmar­kt.

Um 1800 wurden die Hexengeset­ze gestrichen

 ?? Foto: Nicolas Armer, dpa ?? Der Schatten des Teufels? Frauen, die als Hexen verurteilt wurden, sollen einen Pakt mit dem Antichrist geschlosse­n haben. In Deutschlan­d wird längst niemand mehr wegen dieses Vorwurfs verfolgt. In Afrika hingegen stehen zum Beispiel Menschen mit Albinismus noch immer im Verdacht.
Foto: Nicolas Armer, dpa Der Schatten des Teufels? Frauen, die als Hexen verurteilt wurden, sollen einen Pakt mit dem Antichrist geschlosse­n haben. In Deutschlan­d wird längst niemand mehr wegen dieses Vorwurfs verfolgt. In Afrika hingegen stehen zum Beispiel Menschen mit Albinismus noch immer im Verdacht.

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