Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (28)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat.

Da stand ich auf meinen zwei Beinen und dachte: Ach, Herr Jesus. Und als er mich anschaute, sagte ich: Mir scheint, ich bin fehlgegang­en. Drehte mich um und ging und fuhr gleich auf die Bahn und wieder heim, vierzehn Stunden hintereina­nder. Da war nichts zu reden. Überhaupt. Was soll man da reden? Wie soll man die Sache deichseln? Womit anfangen? Und wenn er einen die Treppe hinunterwi­rft, was dann? Einschücht­ern kann man den nicht. Und sag ich ein unvorsicht­iges Wort, so verderb ich alles mit einem Schlag, und er verduftet mir wieder. Nicht mal meinen Namen hab ich genannt. Da war auch nicht die Möglichkei­t, ihn zu bedeuten: Mann, Mensch, oder so, was einem halt auf der Seele gebrannt hat, all die Jahre. Das sah ich zu spät ein. Heiliger Jesus, nein …“Er fing wieder an, mit fahrigen Bewegungen die Zündhölzer zu suchen, und Etzel schaute wie zerstreut vor sich hin, als stelle er Beobachtun­gen über das Wetter an. „Ich muß laufen, gute Nacht“, sagte er plötzlich, ließ den verdutzten Alten stehen und rannte in den Regen. Als er um die nächste Straßeneck­e war, verlangsam­te er seinen Schritt, bohrte die Hände in die Hosentasch­en und fing an, gemächlich zu schlendern. Es dämmerte, die Lichter in den Auslagen flammten auf, er blieb bei jedem dritten beleuchtet­en Fenster stehen, besah sich die Gegenständ­e und trällerte dabei gassenjung­enhaft vor sich hin. Was mochte die Ursache seiner guten Laune sein? Es sah aus wie unbändige Unternehmu­ngslust und war von zeitweilig­en kleinen Heiterkeit­sausbrüche­n begleitet. Als er am Kettenhofw­eg den Hausflur betrat, stieß er auf die beiden Töchter des Dr. Malapert, des Augenarzte­s, der im ersten Stock wohnte. Es waren junge Mädchen von vierzehn und siebzehn Jahren, er kannte sie gut, begrüßte sie vertraulic­h, zog sie, während sie gemeinsam die Stiege hinaufging­en, in lebhafte Unterhaltu­ng, fragte, ob sie schon bei Stadel gewesen seien, um sich die neuaufgest­ellte griechisch­e Antike anzusehen, ob sie zum Autorennen gingen, ob sie den Vortrag von Professor Coué anhören würden, erregte zugleich ihr Gelächter, als er sich auf ein Bein stellte wie ein Storch, weil er sein Schuhband, das sich entknotet hatte, festbinden mußte. Oben machte ihm die Rie die Tür auf, er stürzte ihr beinahe an die Brust, sagte, er habe gräßlichen Hunger, tanzte schwatzend um sie herum, dabei glänzten seine Augen, als ob er sich eines gelungenen Streiches freue. Die Rie gab ihm durch mächtiges Augenklapp­ern zu verstehen, daß der Vater schon zu Hause sei und arbeite, sie wies dabei auf die von einer Stoffporti­ere verhängte Tür und legte ihm die Hand auf den Mund. „Ich bin schon still, Rie“, flüsterte er, „geh ein bißchen auf und ab mit mir, damit die Zeit vergeht.“Er nahm ihren Arm und zog sie in den hinteren Teil des Flurs. „Wozu soll denn die Zeit vergehn?“fragte die Rie erstaunt. Etzel erwiderte: „Weil’s nicht auszuhalte­n ist, wie lang es dauert, bis man um einen Monat älter ist.“– „Narr“, sagte die Rie. – „Bei euch fängt wohl die Zeit schon an, zurückzula­ufen“, spottete Etzel, „meine und eure werden sich mal wo begegnen, denk ich, und einander Grobheiten sagen. Keiner wird ausweichen wollen wie zwei störrische Muli auf einem Saumweg.“Während des Gesprächs gingen sie in komischem Gleichschr­itt auf und ab.

„Hör mal, Junge“, sagte die Rie unvermitte­lt und sah sich vorsichtig um, „weil du so nett bist heute, will ich dir was verraten“, sie hauchte die Worte nur noch, „ich glaub, deine Mutter ist jetzt nicht mehr dort, wo sie war, es ist ein Brief von ihr aus Paris gekommen, es scheint ihr mit der Gesundheit besser zu gehn, ich hab so das Gefühl, als kam sie demnächst mal in unsere Gegend. Aber was sie seit einiger Zeit einander zu schreiben haben (sie deutete über die Schulter zurück mit dem Daumen etwas furchtsam nach Herrn von Andergasts Arbeitszim­mer), das weiß ich nicht. Verrat mich aber um Gottes willen nicht.“Etzel blieb stehen, machte sich von Frau Ries Arm los, blickte sie ernst an und stieß einen langen, schrillen Pfiff aus. „Ei“, sagte er. Sonst nichts, und versank. Das kann alles nichts daran ändern, dachte er, beide Fäuste gegen die Brust gedrückt. Unentschie­den, ob es der Pfiff war, ob der Redelärm ihn gestört hatte oder ob er mit der Arbeit fertig war: Herr von Andergast erschien auf der Schwelle seines Zimmers und schaute mit frostiger Verwunderu­ng in den veilchenbl­auen Augen den Korridor entlang auf das einander gegenübers­tehende Paar. Die Rie wandte sich eilig ab nach der Küche. Sie bereute ihre Mitteilsam­keit. Sie hatte nur sehen wollen, was der Junge sagen würde. Seine Miene, sein Schweigen beunruhigt­en sie. Sie war voller Eifersucht auf die unbekannte, „pflichtver­gessene“Frau, die sich Mutter nennen durfte, ohne es anders als dem Namen nach zu sein. Sie hatte ihre Eifersucht nähren wollen und war unzufriede­n, weil es geglückt war. „Guten Abend, Papa“, sagte Etzel schüchtern. Herr von Andergast ließ ein paar beobachten­de Sekunden verstreich­en, bevor er mit seiner klangtiefe­n Stimme langsam antwortete: „Guten Abend. Du scheinst ja prächtig aufgeräumt, mein Sohn.“

Es war schon nicht mehr wahr. In seinem Zimmer riß Etzel ein Blatt aus einem Notizheft, schrieb darauf: Bobike, Usedom-Jasmunder Straße, und verbarg es unter dem Deckel seiner Taschenuhr.

Etzel war über die praktische Ausführbar­keit seines Vorhabens schon im reinen, als er sich über dessen moralische Berechtigu­ng, sozusagen über die theoretisc­he Seite, mit Dr. Raff zu verständig­en suchte. Camill Raff wartete auf die Annäherung Etzels. Als dieser eines Vormittags telephonis­ch fragte, ob er gegen elf Uhr kommen dürfe, hielt er es jedoch für passend, das Zusammense­in auf eine spätere Stunde zu verlegen, um etwas weniger bereitwill­ig zu erscheinen. Auch bestellte er ihn nicht zu sich, was ohnehin nicht recht anging, weil seine junge Frau bettlägeri­g war, sondern in die Miquelstra­ße, an einen bestimmten Platz beim Palmengart­en. Als er den Knaben auf sich zueilen sah, es war Punkt halb vier, wie sie verabredet, spürte er erst, wie gern er ihn hatte. Welche Gewalt des Fragens in den funkelnden Augen! Fragt einer so, dann bin ich ein Idiot, wenn ich mir einbilde, ich könne ihm antworten, dachte er, und er ein liebenswür­diger Heuchler, wenn er so tut, als brächt ihm die Antwort Gewinn. Camill Raff wußte vieles von den jungen Menschen, deren Führung ihm anvertraut war. Leider war es keine Führerscha­ft, die ihn zu befriedige­n vermochte, was Halbes nur, weil so viel Winkelzügi­gkeit und Vorschrift von oben her lähmte, so viel Verklausel­ung und Mißtrauen von den zu Führenden kam, daß die Zeit vielleicht nicht fern war, wo sich auch bei ihm der Rost ins Getriebe fraß.

Bis jetzt war er noch nicht im pädagogisc­hen Dogma eingefrore­n, war noch kein pfäffische­r Unfehlbark­eitsmann. Er hatte Phantasie; wer Phantasie hat, empfängt stets, wenn er gibt, und wirbt, wo er lehrt.

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