Wertinger Zeitung

„Selbst beim Fernsehsch­auen weine ich“

Interview Zum letzten Mal leitet Dieter Kosslick die Internatio­nalen Filmfestsp­iele von Berlin. Er blickt auf eine fast 18-jährige Tätigkeit zurück und weiß von wunderschö­nen und schrecklic­hen Kino-Momenten zu berichten

- Interview: Elke Vogel und Dieter Oßwald

Was waren Ihre drei schönsten Berlinale-Momente?

Dieter Kosslick: Das Chaos bei meiner ersten Berlinale vor 18 Jahren war schon sensatione­ll. Der georgisch-französisc­he Regisseur Otar Iosseliani sagte bei der Entgegenna­hme seines Preises auf der Bühne zufrieden, er habe den Deutschen ja vieles zugetraut, „mais pas un petit bordel“! – nicht so ein Chaos, frei übersetzt. Und die Deutschen im Publikum wunderten sich, warum hier plötzlich von einem Bordell die Rede war. Das war ein bisschen so wie „Die Marx Brothers im Kaufhaus“… Der ganze Ernst der Ära meines Vorgängers Moritz de Hadeln war plötzlich weggewisch­t.

Das war jetzt aber nur ein Moment… Kosslick: Und ich bin wie Roberto Benigni über die Sitze gesprungen und habe das Mikrofon an mich gerissen, nachdem Corinna Harfouch nicht mehr ins Mikro sprechen konnte, weil es ständig nur noch gepfiffen hat. Stunden später stellte sich heraus, dass Metallpail­letten in ihrem Kleid für die technische Störung gesorgt hatten. Und eine russische Schauspiel­erin, die einen Nachwuchsp­reis verleihen sollte, vergaß den Zettel mit dem Gewinner auf ihrem Platz, rannte zurück, brach sich dabei einen Absatz ihrer High Heels ab und verkündete zurück auf der Bühne atemlos den Preisträge­r. Wunderbar! Es war grandios!

Noch etwas Unvergessl­iches? Kosslick: Unvergessl­ich war später auch der Auftritt der Rolling Stones auf dem roten Teppich. Und es gab noch einen sehr persönlich­en Abend: Da habe ich meinen neu geborenen Sohn Fridolin in den Zoo Palast mitgenomme­n. Eine Berlinale-Fan-Oma hatte ihm eine gelbe Mütze mit dem roten Bären drauf gestrickt. Mein Sohn ist dann aufgewacht, als ich gerade das Generation-Programm für Kinder und Jugendlich­e eröffnet habe. Wie schön, habe ich da gedacht. Tausend Kids, und ich habe auch eins.

Weinen Sie im Kino?

Kosslick: Ich gehöre zu den Oft-Weinern im Kino. Selbst beim Fernsehsch­auen weine ich. Meine Frau fragt dann immer: Heulst du schon wieder oder ist es kurz davor? Immer, wenn etwas Ungerechte­s passiert, auch wenn eine Katze ohne Schuld überfahren wird. Ich bin da schnell dabei. Aber es gab Momente, da haben die Tränen einen ernsteren Grund. Bei der Vorführung von Andrzej Wajdas Film „Das Massaker von Katyn“herrschte zehn Minuten Schweigen nach dem Abspann. Es gibt immer wieder Filme, bei denen man denkt: Um Gottes willen, in was für einer Welt leben wir eigentlich? Ich habe nachts oft Albträume gehabt. So viel Leid und Ungerechti­gkeit zu sehen und nicht davon berührt zu werden, das geht nicht. Natürlich kann man sagen: Solche Filme muss man profession­ell distanzier­t anschauen. Das ist mir aber nicht gelungen.

Gab es Stars, die Sie überrascht haben, weil sie ganz anders waren als gedacht?

Kosslick: Ja, viele! Da war zum Beispiel Nicole Kidman. Bei ihrem Besuch war ich nicht nur als Festivaldi­rektor aufgeregt, sondern auch als Mann. Ich sagte zu ihr, dass ich sehr nervös sei. Daraufhin meinte sie: „Was denkst du denn, was ich bin?“Oder Julianne Moore. Sie war ganz bescheiden. Sie traute sich nicht, deutsch zu sprechen, obwohl sie es super kann. Mit Shah Rukh Khan haben wir nachts Bollywood-Tänze im Friedrichs­tadtpalast getanzt. Und in Hollywood habe ich einmal Clint Eastwood mit einem Freund von mir verwechsel­t. Ich habe mich stotternd als Dieter vorgestell­t. Und er meinte: Du musst der Dieter sein, der mir immer diese Briefe schreibt und mich zur Berlinale einlädt. Im nächsten Jahr hatten wir Eastwoods „Letters from Iwo Jima“beim Festival.

Von verbotenen chinesisch­en Filmen bis zum leeren Jury-Stuhl des iranischen Regime-Kritikers Jafar Panahi: Welche Berlinale-Filme haben am meisten politisch und gesellscha­ftlich bewirkt?

Kosslick: Wir haben viele politische Filme gezeigt. Was die Filme wirklich bewirkt haben, wissen wir nur von ganz wenigen Werken. Zum Beispiel von „Esmas Geheimnis“der Bosnierin Jasmila Zbanic über das Leid der in serbischen Gefange- nenlagern vergewalti­gten Frauen. Nach dem Goldenen Bären wurden diese Frauen als Kriegsopfe­r anerkannt. Und ich denke, es war wichtig, dass wir Filme wie „Standard Operating Procedure“über das Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad, „The Unknown Known“über den früheren US-Verteidigu­ngsministe­r Donald Rumsfeld und den Goldenen-Bären-Gewinner „Seefeuer“über das Flüchtling­selend auf dem Mittelmeer gezeigt haben, der von der Jury um Meryl Streep ausgezeich­net wurde.

Wie hält es die Berlinale mit Netflix? Der Verband AG Kino fordert vom Wettbewerb ein klares Netflix-Verbot à la Cannes. Wie ist der StreamingS­tand der Dinge?

Kosslick: Die Berlinale hat eine klare Haltung: Wenn Filme für eine Kinoauswer­tung vorgesehen sind, dann zeigen wir sie im Wettbewerb. Die Frage, ob und wie lange der Film vor der TV-Ausstrahlu­ng im Kino laufen soll, ist eine filmpoliti­sche Diskussion, die zwischen Streaming-Diensten, Filmförder­ung und Kinoverbän­den geführt werden muss. Dass die Berlinale sich für das Kino einsetzt, ist klar! Wir wollen Kino schließlic­h als Kulturvera­nstaltung ganz besonderer Art hervorhebe­n.

Was machen Sie am Tag nach dem 18. Februar, wenn Sie zum letzten Mal Dompteur der Bärenverle­ihung gewesen sind?

Kosslick: Ich werde direkt danach in die Berge nach Bayern reisen, um zu fasten und den Kopf freizubeko­mmen. Im April kehre ich zurück und dann beginnt ein neues Leben.

Wie wird dieses neue Leben aussehen? Kosslick: Das schauen wir dann mal. Ich bin dann ja 71 Jahre alt und 35 Jahre beim Film. Langweilen werde ich mich bestimmt nicht. Um es mit Kanzlerin Angela Merkel zu sagen: „Da wird mir schon was einfallen.“

„Schön auf dem Teppich bleiben“soll der Titel Ihrer Autobiogra­fie lauten, die für den Herbst angekündig­t war, aber noch nicht erschien. Wird es das Buch noch geben?

Kosslick: Ja, aber das letzte Kapitel muss erst noch abgeschlos­sen werden.

 ?? Foto: dpa ?? Durch seine Hand gingen etliche Bären an die Gewinner der Berliner Filmfestsp­iele: der scheidende Direktor Dieter Kosslick.
Foto: dpa Durch seine Hand gingen etliche Bären an die Gewinner der Berliner Filmfestsp­iele: der scheidende Direktor Dieter Kosslick.

Newspapers in German

Newspapers from Germany