Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (43)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat.
Er ist müde von zu raschem und zu gierigem Genießen. Er hat jede Hand ergriffen, die ihm hingehalten wurde; eine jede hat sich dann seiner ganzen Person bemächtigt und den Widerstandslosen in eine Abseitigkeit verschleppt. Er entbehrt des Haltes. Er sieht sich selber in Gefahr und blickt nach Stützen umher. Menschen wie er fallen unweigerlich, wenn sie nicht im entscheidenden Augenblick von einem Stärkeren gepackt werden. Er ist durch zu viel Gesellschaft irritiert, durch zu viel Beifall blasiert, durch zu viel Erwartung, die er nicht mehr erfüllen zu können fürchtet, gehemmt. Es handelt sich, mit dürren Worten, um seine Rettung. Elli erkennt es, sie geht mit sich zu Rate, sie erwägt, was sie gewinnen, was sie verlieren kann, sie beschließt die Rettung. Sie traut sie sich zu. Die Aufgabe, kaum gestellt, beansprucht ihr ganzes Leben, sie weiß es. Eines verlangt sie als Bedingung: Vertrauen. Ohne vollkommenes, unbedenkliches, ungemessenes Vertrauen kann sie das Wagnis nicht auf sich nehmen. Sie will alles wissen, in jeder Lage, unter allen Umständen, es darf keine Geheimnisse und Verheimlichung geben, über die Vergangenheit nicht, über die Gegenwart nicht. Sie will Vertrauen haben, dann kann sie Vertrauen geben, vollkommenes, unbedenkliches, schrankenloses. Er findet das Verlangen nicht nur gerecht, sondern auch natürlich, er selbst kann sich ein anderes Verhältnis nicht denken, es ist genau das, was ihm vorschwebt. Feurig leistet er das Gelöbnis, das sein moralischer Einsatz in die Ehe ist. Er ist überzeugt, daß er es niemals brechen wird, sie glaubt ihm, weil sie alsbald an seinem Herzen noch weniger zweifelt als an seiner Ehre. Ihre Liebe beruht gleichsam auf einem Schöpfungsakt. Sie hat das Gefühl, sich ihn erschaffen zu haben.
Als sie durch den anonymen Brief von der Beziehung Leonharts zu der Tänzerin Gertrud Körner und der Existenz des Kindes Hildegard er- fährt, nach anderthalb Jahren ihrer Ehe, mitten im harmonischen Zusammenleben, glaubt sie an eine Verleumdung. Sie vernichtet das Schriftstück und versucht, nicht weiter daran zu denken. Bald aber merkt sie an Leonharts Unruhe, es ist nicht alles, wie es sein sollte. Er hatte ihr nach und nach alles gebeichtet, seine Mitteilsamkeit in diesem Punkt hatte sie sogar bisweilen amüsiert, es lag so was knabenhaft Prahlerisches darin. Sie weiß von der Apothekerstochter, die sich ihm leichtsinnig an den Hals geworfen und deren er nach einem Sommer überdrüssig geworden, von der Frau des Krefelder Seidenfabrikanten, die ihm auf öffentlicher Promenade Eifersuchtsszenen gemacht, von der kleinen Wiener Pianistin, die ihn fast dazu gebracht, mit ihr nach Amerika zu gehen; von gelegentlichen Liaisons minder verbindlicher Art, die sich ausgelebt hatten in einer Nacht, Mitgenommenes von allen Wegen, immer kam noch was Neues, noch ein gestohlenes Herz, noch eine getäuschte Anwärterin, noch ein geglückter Einbruch in einen ehelichen Frieden. Von einer Gertrud Körner keine Silbe. Es lag ihm doch nichts am Verschweigen, er hat es oft genug gesagt: Gott sei Dank, das ist vorüber, der Wirrwar zu Ende; seit du alles weißt, bin ich’s erst richtig los. Wie froh sie das gemacht hat, um wieviel ernsthafter, männlicher er dadurch erscheint, um wieviel legitimer ihr Gefühl, geborgener ihr Leben an seiner Seite wird! Sie kann sich’s nicht erklären: da ist ein Name, der Name kann nicht aus der Luft gegriffen sein, wer soll, noch so boshaft oder neidisch, derlei erfinden; es läßt sie nicht, sie muß es zur Sprache bringen: eines Tages, bei Tisch, berichtet sie ihm mit niedergeschlagenen Augen von dem Brief. Eine Weile antwortet er nicht, dann gibt er die Tatsache zu, er gibt erstens zu, daß er den Brief selber geschrieben hat. Auf der Schreibmaschine. Er behandelt es als einen Scherz, ihre weit erstaunten Augen machen ihm begreiflich, daß sie solche Scherze nicht versteht. Ja, also er wollte, daß sie vorbereitet sei, wenn er ihr die Sache erzählt. Warum das? Immer noch der dumme Bub im bestallten Privatdozenten, Pennäler auf Diebswegen; ich denke, das haben wir überwunden? Rückfall, leider Gottes. Einen anonymen Brief schreiben, der Mann an die eigene Frau! Vergessen wir es, es soll nicht gewesen sein; weiter, weiter. Er gibt ferner zu, daß er mit der Tänzerin ein Verhältnis gehabt hat, er hat mit ihr die Ferien in Mürren verbracht, er hat sie gern gehabt, vielleicht hat sie ihm ein wenig mehr bedeutet als seine übrigen Geliebten, möglich, er kann es nicht mehr genau sagen, sie sind als Freunde voneinander gegangen, im Winter hat sie dann das Kind geboren. Er gibt es zu, auch das. Nicht so freimütig wie bei allen früheren Geständnissen, bedrückt, winkelzügig. Sie will wissen, weshalb er gerade diese Beziehung verheimlicht oder doch die Mitteilung hinausgeschoben. Er erwidert scheu: wegen des Kindes eben. Sie faßt es zuerst nicht, dann verfärbt sie sich und wird still. Sie ist eine kinderlose Frau, sie ist durch ihren Körper verurteilt, es zu sein. Es ist unabänderlich. In einem Nu überlegt sie die Gefahren der Situation. Ihre Lage als Weib und Gattin erfordert in jeder Sekunde ihres Lebens die schärfste Wachsamkeit, die hellste Geistesgegenwart. In der Ehe zwischen einem fünfundzwanzigjährigen Mann und einer vierzigjährigen Frau ruht nicht nur die Erfüllung geheimsten Anspruches auf den Schultern der Frau, sondern ihr obliegt auch die schwierigste Selbstverleugnung, die es gibt, als ob das ihrer Natur Widerstrebende das Angenehme und Wünschenswerte wäre. So faßt sie in jenem schlimmen Moment den Gedanken an Adoption des verwaisten Wesens und hätte ihn auch ausgesprochen, wenn Leonhart sie nicht durch ein verhängnisvolles Wort, das wahrscheinlich nur seiner Verlegenheit entspringt, stutzig gemacht hätte. (Sowohl im Verhörsprotokoll Nr. 14 der Voruntersuchung wie auch in einem bei den Akten liegenden Brief Ellis an ihre Freundin, Frau Professor von Geldern, war dieses Gespräch erwähnt, der Adoptionsplan allerdings nur in dem zweiten Dokument, wie sich denken läßt.) Er sagt nämlich: Anna weiß es, ich wußte mir keinen andern Rat, als sie ins Vertrauen zu ziehen. Elli schaut ihn groß an. Auf einmal ist in ihr keine andere Regung mehr als Abwehr und Feindseligkeit gegen das Kind. Sie erhebt sich schweigend und geht hinaus. Wie ist es zugegangen, daß Anna Mitwisserin wurde, bevor sie selbst es wurde? Was ist da geschehen? Was ist gesprochen worden? Sie muß es ergründen. Sie spürt, Leonhart empfindet eine Zärtlichkeit für das Kind, die er sich vielleicht noch nicht eingesteht, die ihr aber deshalb um so bedrohlicher dünkt. Weiß Anna das auch? Hat sie es gebilligt, hat sie ihn in dem Gefühl ermuntert? Hat sie den Schutzgeist gespielt? Ganz ohne Zweifel, die Bestätigung läßt nicht auf sich warten: Anna hat das Kind nach England gebracht, Anna hat die Fürsorge übernommen, Anna hat die Korrespondenz in Händen, Anna verwaltet dieses plötzlich aufgetauchte Seelengut.
»44. Fortsetzung folgt