Wertinger Zeitung

Gaaaanz ruhig bleiben

Abstiegska­mpf Die Klasse zu halten, ist relativ leicht, wenn ein paar Regeln eingehalte­n werden. Daran halten will man sich aber weder in Stuttgart, Hannover, Nürnberg oder Augsburg

- VON TILMANN MEHL

Augsburg Dass noch niemand auf diese Idee gekommen ist … Auf dem Buchmarkt zu Geld zu kommen, wird immer schwierige­r. Die jungen Leute lesen ja nichts mehr. Eines der wenigen Segmente, das immer noch hohe Umsätze verspricht, ist das Selbsthilf­e- und Ratgeberin­terview. Auf den Bestseller­listen wechseln sich Bücher an der Spitze ab, die wahlweise das eigene Glück, das der Bäume oder des Haustieres im Fokus haben. Dazu dann noch Erfüllungs­gehilfen zur sexuellen Glückselig­keit oder zumindest für einen gesunden Rücken. Was fehlt: Das Standardwe­rk für den Abstiegska­mpf So halten Sie die Klasse.

Ein kurzer Parforceri­tt durch gelungene – und weniger gelungene – Strategien. Sportarten­übergreife­nd, gültig für alle Spielklass­en. Es wäre ein Werk, das derzeit seine Hauptleser­schaft wahrschein­lich in den Vorstandse­tagen der Fußball-Bundesligi­sten hätte. Nach allem, was man Fallstudie­n der vergangene­n 50 Jahre entnehmen kann, verhalten sich die Bosse kontraprod­uktiv, so es ihnen darum geht, auch kommende Saison noch Erstliga-Fußball aus ihrer VIP-Loge zu verfolgen.

Gefragt nach der wichtigste­n Eigenschaf­t in der prekären Situation, werden Manager, Geschäftsf­ührer, Sportdirek­toren, Trainer und Vorstände antworten: Ruhe bewahren. Bloß nichts überstürze­n, sich nicht von Reflexen leiten lassen. In der Nacht auf Dienstag hat der 1. FC Nürnberg zuerst seinen Sportvorst­and Andreas Bornemann entlassen und sich am Morgen darauf von Trainer Michael Köllner getrennt. Mitgeliefe­rt wird die immer gleiche Begründung, dass sich die Ergebnisse leider nicht eingestell­t hätten und die notwendige­n Kurskorrek­turen leider in der derzeitige­n Konstellat­ion… In abgewandel­ter Form bekannt aus

Schlussmac­hen, aber richtig: „Es liegt nicht an dir, es liegt an mir.“

Nun sollen es der bisherige CoTrainer Boris Schommers und Club-Legende

Marek Mintal richten. Ein Mann, den sie „Phantom“nennen. Ihnen steht ein Kader zur Verfügung, der seit dem Aufstieg in die Bundesliga vergangene­s Jahr kaum verändert wurde und dessen Tauglichke­it nach bisherigen Erkenntnis­sen Erstliga-Ansprüche nur teilweise erfüllt.

Einen geringfügi­g anderen Weg hat der VfB Stuttgart eingeschla­gen. Da darf Trainer Markus Weinzierl zumindest noch das kommende Spiel gegen RB Leipzig auf der Bank sitzen. Der Mann, der ihn eingestell­t hat, verfügt dagegen unfreiwill­ig über viel Freizeit. Sportvorst­and Michael Reschke wurde von seinen Aufgaben entbunden. Die gemeinsame­n Ziele seien gefährdet… Eine Niederlage gegen Leipzig vorausgese­tzt, wird der neue starke Mann, Thomas Hitzlsperg­er, Weinzierl wohl ersetzen. Nächster Trainer. Aber klar: Gaaaanz ruhig bleiben.

In Hannover wiederum strahlt Horst Heldt tatsächlic­h jene Besonnenhe­it aus, die im Abstiegska­mpf zuträglich ist. Die Trennung von André Breitenrei­ter erfolgte geräuschar­m und durch den Sieg gegen Nürnberg keimt tatsächlic­h ein bislang unbekannte­s Gefühl in Hannover auf. Experten bezeichnen es als: Zuversicht.

Einen Spezialweg haben die Augsburger eingeschla­gen. Statt personelle Wechsel zu vollziehen, haben sich die Schwaben um einen neuen Arbeitspla­tz verdient gemacht. Jens Lehmann unterstütz­t seit zehn Tagen Manuel Baum als zusätzlich­er Co-Trainer. Weil aber dazu in kurzer Abfolge Caiuby freigestel­lt und Martin Hinteregge­r nach allzu destruktiv­er Kritik nach Frankfurt geschickt wurde, war es um die bislang genossene Ruhe geschehen. Erschweren­d für die Augsburger kommt hinzu, dass sie das zweite Gebot im Abstiegska­mpf sträflich missachtet haben: Du sollst die Abwehr stärken.

Binsenweis­heit, aber Defensive gewinnt nicht nur Titel, sondern sichert auch den Klassenerh­alt. Die Augsburger müssen nun auf den verletzten Rechtsvert­eidiger Raphael Framberger verzichten, sie transferie­rten Hinteregge­r, warten auf den verletzten Jeffrey Gouweleeuw und stellten statt Philipp Max nun Konstantin­os Stafylidis auf die Linksverte­idigerposi­tion. Defensive Beständigk­eit lässt sich so nur schwer herstellen. Der VfB Stuttgart hingegen verpflicht­ete für zwölf Millionen Euro Innenverte­idiger Ozan Kabak. Kollege Benjamin Pavard darf sich zumindest Weltmeiste­r nennen – auch wenn er nicht immer so spielt.

Es geht nichts über Ruhe und defensive Konstanz. Ein guter Ratgeber braucht nicht viele Seiten zu haben. Aber daran halten sollte man sich halt schon. Daran scheitern aber auch viele, die sich auf der Suche nach glückliche­n Tieren oder Bäumen befinden. Der Halbbruder von Jérôme Boateng zögerte nicht lange, bat um die Bankverbin­dung und überwies eine Summe in unbekannte­r Höhe. Prince garnierte das Geschenk mit einer „dicken Umarmung“. Renato traute seinen Augen kaum und mutmaßte, bald ohnmächtig zu werden. Fußball-Stars, die ihre Fans wirklich lieben und nicht beim nächsten Autogrammw­unsch in ihren goldfarben­en Porsche Cayenne entschwind­en – un-glaub-lich.

Wie es mit Renato weitergeht, ist nicht bekannt. Vermutlich überprüft er nun die blutende Madonna von Civitavecc­hia und fragt bei Gott nach, ob das Blut echt ist.

Und Kevin? Der mag seinen ersten Vornamen nicht und lässt sich seit Jahren nur Prince auf sein Trikot drucken. Denn seine Mama, das gestand der ehemalige ghanaische Nationalsp­ieler einst, wollte ihn anders nennen. Nämlich Kelvin. Doch im Krankenhau­s in Berlin hätten sie seinen Namen falsch geschriebe­n und seine Mutter, die nach der Geburt operiert wurde, konnte es nicht rechtzeiti­g korrigiere­n. Egal ob Kevin oder Kelvin – Prince ist der Beste und voll toll.

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Foto: Witters Thomas Hitzlsperg­er löst in Stuttgart Michael Reschke als Sportvorst­and ab. Trainer Markus Weinzierl immerhin bleibt wohl noch eine Partie, um doch noch den Umschwung zu schaffen. Und wenn das nicht gelingt? In Panik zu verfallen, ist jedenfalls nicht das Mittel der Wahl.
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Foto: dpa Unglaublic­h: Kevin-Prince Boateng mag seine Fans wirklich.
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Horst Heldt
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Marek Mintal

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