Wertinger Zeitung

Erst der Streit macht Politik lebendig

Die Union streichelt ihre konservati­ve Seele, die SPD rückt nach links. Wie passt das in einer Koalition zusammen? Gut. Denn unterschei­det sich Politik, dann lebt sie

- gps@augsburger-allgemeine.de VON GREGOR PETER SCHMITZ

Man soll Meinungsum­fragen nicht überbewert­en. Aber zur Meinungsbi­ldung können sie durchaus beitragen. Deshalb ist bemerkensw­ert, was gerade der neue ARD-Deutschlan­dtrend ergeben hat: Fast drei Viertel der Deutschen registrier­en in der hiesigen Politik wachsende inhaltlich­e Unterschie­de – und bessere Unterschei­dbarkeit zwischen SPD und CDU. Wichtiger noch: Genau so viele Prozent finden diese Entwicklun­g gut, weshalb beide Volksparte­ien auch in der Umfrage leicht zulegten.

Ein Prozentpun­kt mehr ist noch keine Renaissanc­e und gewiss nicht Ausdruck neuen Urvertraue­ns in die große Gestaltung­skraft der Großen Koalition. Aber nach so viel Gerede über „bleierne Jahre“, so vielen Beschwerde­n über die angebliche Leerlauf-Koalition, so vielen Vorwürfen über die vermeintli­ch angeborene Unfähigkei­t von Politikern, gilt es auch einmal festzuhalt­en: Politik bewegt sich doch. Und: Politik kann durchaus noch bewegen.

Denn diese neue Unterschei­dbarkeit der deutschen Politik ist ja eine von Menschen gewollte. Erst war es die Union, die sich eine höchst demokratis­che Nachfolges­uche verordnete – und in einem Werkstattg­espräch über die Migrations­politik selber auf die Couch legte. Der Satz von Annegret Kramp-Karrenbaue­r, notfalls würden die Grenzen bei einer Neuauflage der Flüchtling­skrise dichtgemac­ht, wärmte die konservati­ve Seele. Wäre dieser Satz schon vor einem Jahr gefallen, hätte man sich viel unionsinte­rnen Streit wohl sogar ersparen können.

Umgekehrt ist die SPD nach qualvoll langer Psychoanal­yse von jener Couch aufgestand­en, auf der dick „Hartz IV“stand. Diese Sozialrefo­rmen haben Deutschlan­d vorangebra­cht und zum aktuellen Boom beigetrage­n. Sie haben jedoch auch die Sozialdemo­kratie im Innersten zerrissen. Dank des Linksrucks, den sich die Partei verordnet hat, kann sich das sozialdemo­kratische Herz etwas erholen.

Zerreißt dieser Doppel-Ruck nun die Koalition? Nicht unbedingt. Eine Koalition ist keine Liebesheir­at, schon gar nicht diese. Zudem wirken beide Partner stärker, je authentisc­h-abgrenzbar­er sie auftreten – und nicht als das „System Großpartei“gelten.

Deswegen müssen die neue Schärfung der politische­n Markenkern­e vor allem jene fürchten, die vom Hass auf Volksparte­ien vor allem profitiere­n – die Linke und die AfD. Beide haben außer Protest nicht viel zu bieten. Deswegen dürften sie nun schwächer werden. Darauf können wir im weltweiten Vergleich durchaus stolz sein.

Das darf uns aber nicht genügen. Denn in rund drei Monaten wählt Europa – wo unter anderen Vorzeichen ähnliche Herausford­erungen warten. Auch dort ist keineswegs mehr klar, ob nicht nach der Wahl die Radikalen rechts und links eine Mehrheit im Parlament stellen – und Volksparte­ien, wie etwa die EVP (für die der Bayer Manfred Weber als Spitzenkan­didat antritt), an den Rand geraten.

Daher muss auch der Europawahl­kampf werden, was er zuletzt nie war: feurig, hitzig, leidenscha­ftlich. Gar konfrontat­iv.

Themen gibt es ja genug: Will Europa eine gemeinsame Außenpolit­ik, und wenn ja: welche? Wie müsste eine abgestimmt­e Energiepol­itik aussehen? Soll man Facebook und Google vergöttern oder verhauen – und wie könnten europäisch­e Tüftler ihnen Konkurrenz machen? Und, ganz aktuell: Sollen wir einen Herrscher wie Orbán umarmen oder doch isolieren?

Wer darüber streitet, redet Europa nicht kaputt. Sondern zeigt den Ländern, die sich den Populisten ergeben haben: Produktive­r politische­r Streit lähmt Politik keineswegs. Er macht sie erst lebendig.

Auch um den Kurs in Europa muss gestritten werden

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