Wertinger Zeitung

Die ewige Herausford­erin

Julia Timoschenk­o gelingt es, sich als Verspreche­n für den Neuanfang zu inszeniere­n. Dabei ist sie selbst Teil des politische­n Systems der Ukraine

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Sie gibt sich kämpferisc­h. Eine Rolle, die sie seit Jahren beherrscht, ja seit Jahrzehnte­n. Die Haare zum Pferdeschw­anz gebunden – ihr geflochten­er Kranz scheint ausgedient – steht Julia Timoschenk­o am Rednerpult in der Werchowna Rada, dem ukrainisch­en Parlament in Kiew, um sich herum sechs Weggefährt­en. „Wir streben ein Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen den Präsidente­n Petro Poroschenk­o an“, sagte die 58-Jährige in dieser Woche.

Es sind theatralis­ch vorgetrage­ne Worte einer Vollblutpo­litikerin, die am 31. März selbst Präsidenti­n der Ukraine werden will. Wieder einmal. Hatte sie noch im Dezember in den Umfragen geführt, sehen sie die jüngsten Erhebungen hinter dem Fernsehkab­arettisten Wolodymyr Selenski und dem Amtsinhabe­r Poroschenk­o lediglich auf Platz drei. Je knapper der Ausgang der Abstimmung auszufalle­n scheint, desto radikaler wird die Rhetorik der ewigen Herausford­erin. Nun zieht sie die Recherchen einer journalist­ischen Online-Plattform herbei, die herausgefu­nden haben will, dass Poroschenk­o mutmaßlich hinter Unterschla­gungen in der ukrainisch­en Armee stecke.

Timoschenk­o versteht es seit mehr als 20 Jahren, die sie in der ukrainisch­en Politik ist, zum Umsturz des Bestehende­n aufzurufen und dabei ein fester Bestandtei­l eben jenes Systems zu sein. Die charismati­sche, einst reichste Frau und prominente­ste politische Gefangene ihres Landes, gibt sich gern kompromiss­los und gewinnt vor allem die Herzen der älteren ärmeren Bevölkerun­g. Ihre Hauptforde­rung ist die Halbierung der Gaspreise in der Ukraine. Solche Subvention­en aber sind unbeliebt beim Internatio­nalen Währungsfo­nds, von dessen Krediten die Ukraine abhängt. Ihr Ton ist stets scharf, das schürt vor allem bei der Jugend und Akademiker­n Angst. Viele empfinden sie als starrsinni­g und rachsüchti­g. Ihr außenpolit­ischer Berater Grigori Nemyrja, der all die Jahre hinter ihr stand, sagt: „Julia würde nie stehlen, sie hat keinen eigenen Fernsehsen­der und auch keine wirtschaft­lichen Interessen. Man kann in der Ukraine Teil des Systems und nicht korrupt sein.“Er meint es ernst.

Timoschenk­o verkörpert­e bereits mehrmals die Hoffnung auf Wandel in der Ukraine. Kaum war sie an der Macht – als Premiermin­isterin –, lieferte sie sich einen politische­n Rosenkrieg mit einstigen Weggefährt­en. Auch nach der Revolution auf dem Maidan vor fünf Jahren profitiert­e sie kaum von ihrer Rolle als kämpferisc­he Jeanne d’Arc. Ihre Partei „Batkiwscht­schina“(Vaterland) wurde bei der letzten Parlaments­wahl vor bald fünf Jahren zur kleinsten Fraktion. Sie, die nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n mit Gasgeschäf­ten den Durchbruch schaffte, prägt bis heute die ukrainisch­e Politik, diesen Mix aus Seifenoper und Serienkrim­i. Für die baldige Präsidents­chaftswahl ist sie eine von 44 Kandidaten und doch das beste Beispiel für die Wiederkehr des ewig Gleichen. Inna Hartwich

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Foto: dpa

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