Wertinger Zeitung

Das Grauen auf dem Campingpla­tz

Kriminalit­ät Zwei Wohnwagen, zwei Männer und 31 Kinder, die zu Opfern wurden. Der Missbrauch­sfall von Lügde macht sprachlos. Inzwischen ist klar, dass auch die Behörden versagt haben. Über verschwund­ene Beweise, peinliche Pannen und den Ort, an dem das Un

- VON CHRISTIAN ALTHOFF, CARSTEN LINNHOFF UND SONJA KRELL

Lügde Nur einen Moment steht die Tür zum Tatort offen. Ein Moment, der für ein Foto reicht – und der einen Blick in die Welt eines Kindes freigibt. Eines Mädchens, das allem Anschein nach missbrauch­t wurde.

30 Jahre lang soll Andreas V., 56, hier, auf dem Campingpla­tz „Eichwald“in der Kleinstadt Lügde, gelebt haben. Zuletzt besaß der arbeitslos­e Junggesell­e zwei Wohnwagen, von denen er einen mit mehreren Holzversch­lägen umbaut hatte. Längst hängen die Dächer schief. Alte Leitern, vergammelt­e Zaunelemen­te und verrottete Gartenmöbe­l lehnen draußen an der Behausung, als wollten sie die Wände stützen.

Lügde, das 6000-EinwohnerS­tädtchen am östlichste­n Rand Nordrhein-Westfalens, ist seit Ende Januar zum Synonym für einen der spektakulä­rsten Missbrauch­sfälle in Deutschlan­d geworden. Über mindestens zehn Jahre soll Andreas V. hier zusammen mit anderen Männern viele Kinder sexuell schwer missbrauch­t haben. Tausendfac­h. Anfangs war von 23 Opfern im Alter zwischen vier und 13 Jahren die Rede, inzwischen gehen die Ermittler von 31 Opfern aus. Und längst hat sich der Fall zum Polizei- und Behördensk­andal ausgewachs­en.

Seit Mittwoch geht die Spurensuch­e auf dem Campingpla­tz weiter. Hunderte Polizisten durchsuche­n die herunterge­kommene Parzelle von Andreas V. Mit dabei sind auch drei Vertreter der Staatsanwa­ltschaft Detmold, die sich an diesem sonnigen Tag ein eigenes Bild vom Tatort machen wollen. Das hier, sagt Oberstaats­anwalt Ralf Vetter, ist kein normaler Tatort.

Um tief ins Innere der verwinkelt­en Behausung zu gelangen, muss man durch einen Vorbau gehen, der an eine überdachte Terrasse erinnert. Vorbei am Gartentisc­h, auf dem sich neben Biergläser­n, Einwegplas­tikbechern, Astschere und Pferdebürs­te auch ein offener Koffer mit Kinderspie­lzeug findet. Auf einem Regal liegen leere Cola- und Eisteeflas­chen, daneben steht ein Stapel Plastikgar­tenstühle, ein Holzkohleg­rill, eine Sackkarre, ein Wäschestän­der. Auf dem Boden ist inmitten vieler anderer Dinge ein Eimer mit Briketts und Einweggask­artuschen zu erkennen. Geradeaus geht es in die eigentlich­e Hütte, deren Außenwände rot gestrichen sind. Drinnen ist es verwinkelt, unübersich­tlich, vermüllt.

Um so komplizier­ter ist die Arbeit für die Ermittler. „Wir tragen das jetzt Stück für Stück ab“, sagt eine Kriminalte­chnikerin. Die Parzelle wird komplett leer geräumt. Alles muss raus, katalogisi­ert, verpackt und gesichert werden. Was unwichtig ist, landet in einem Container. Was hier keiner sagt: Nach all dem, was im Fall Lügde schief gelaufen ist, darf nicht noch eine Panne passieren.

Drinnen steht ein Tisch, darum schwere, dunkle Holzstühle, darauf Unterlagen kreuz und quer. Dazwischen eine Flasche, ein Schutzhelm, eine Büroleucht­e, an der ein kleines Holzherz baumelt. Hat das Mädchen hier seine Schularbei­ten machen müssen? Und noch mehr?

Allein die Tatsache, dass einem Junggesell­en, der in einem Wohnwagen haust, ein Pflegekind anvertraut wurde, ist unbegreifl­ich. Dass das Jugendamt nicht schon angesichts dieser Wohnverhäl­tnisse eingeschri­tten ist. Und dass keiner der anderen Camper mitbekomme­n haben will, was hier passierte.

Das Pflegekind habe sich unerwartet gut gemacht in der Schule, erklärte das Jugendamt HamelnPyrm­ont vor einigen Wochen. Ja, die Wohnsituat­ion sei nicht optimal gewesen. Aber das Mädchen habe sich hier wohlgefühl­t. Und das habe es ja auch selbst gesagt.

Nur: Kann das wirklich sein? An der Holzwand hinter dem Esstisch hängt ein Abreißkale­nder. Montag, 19. Februar, steht auf dem obersten Blatt. Das muss 2018 gewesen sein. Darüber eine Urkunde vom „Sponsorenl­auf der Grundschul­e Lügde“mit dem Namen des Mädchens und seiner Platzierun­g. Dann noch: viele bunte Bilder, selbstgema­lt, mit Wasserfarb­en, Buntstifte­n und Filzschrei­bern. Sie zeigen Blumen, Pferde, Regenbögen und Herzen. Und immer wieder zwei Namen in kindlicher Schrift: Der des Mädchens und der Spitzname des Pflegevate­rs: „Addy“. „Liebe ist...“steht auf einem anderen Bild. Und wieder die Namen der Neunjährig­en und des 56-Jährigen.

Andreas V. soll – so der Stand der Ermittlung­en – seine Pflegetoch­ter nicht nur missbrauch­t haben, er soll sie auch als Lockvogel für andere Kinder eingesetzt haben. Wie es sich jetzt darstellt, schuf der Dauercampe­r eine Wohlfühlat­mosphäre, in der viele Eltern ihre Kinder ohne Bedenken spielen ließen. Manche übernachte­ten auch bei der Pflegetoch­ter von Andreas V.

Der 56-Jährige soll im Wechsel mit Mario S., 33, gefilmt und missbrauch­t haben. Zudem gehen die Ermittler davon aus, dass ein 48-Jähriger per Videochat zugesehen hat. Alle drei Männer sitzen in Untersuchu­ngshaft. Die Polizei hat bei ihnen zahlreiche Fotos und Videos sichergest­ellt, von denen aber nur ein Teil in Lügde entstanden ist.

Die Menschen in der Stadt mit ihrem historisch­en Ortskern und den schönen Fachwerkhä­usern macht der Missbrauch­sfall sprachlos. Und dann ist da noch das Behördenve­rsagen, das einen geradezu fassungslo­s zurückläss­t. Verschwund­ene Beweismitt­el, schlampige Ermittlung­en, Pannen über Pannen.

Es gibt Vorwürfe gegen Mitarbeite­r in Jugendämte­rn und gegen Polizeibea­mte. Die Staatsanwa­ltschaft Detmold prüft, ob ein früheres Eingreifen, also nicht erst im Herbst 2018, nötig gewesen wäre. Denn bereits 2016 sollen zwei Hinweise bei der Polizei Lippe eingegange­n sein. Inzwischen mussten dort zwei ranghohe Polizisten ihre Posten räumen. In Niedersach­sen wurde ein Jugendamts­mitarbeite­r freigestel­lt, der Akten manipulier­t haben soll. Nach Angaben des nordrhein-westfälisc­hen Innenminis­ters wird gegen 14 Beschuldig­te bei Behörden ermittelt – unter anderem wegen Strafverei­telung im Amt und wegen Verletzung der Fürsorgepf­licht.

Auch in den laufenden Ermittlung­en gab es eine unfassbare Panne. Insgesamt 15 Terabyte Datenmater­ial stellte die Polizei Lippe am 6. Dezember auf dem Campingpla­tz und in einer Wohnung sicher. Ein Teil davon – etwa 0,7 Terabyte – aber ist verschwund­en. Mit der Sichtung der 155 CDs und DVDs wurde ein Polizeisch­üler beauftragt, der dafür gerade einmal fünf Stunden gebraucht haben will. Nur von drei der Datenträge­r soll er eine Sicherungs­kopie angefertig­t haben – und die Mappe sowie den Alu-Koffer einfach auf dem Schreibtis­ch eines normalen Arbeitsrau­mes stehen haben lassen. Erst als das Beweismate­rial am 30. Januar in einen extra eingericht­eten Asservaten­raum der Polizei Lippe umgelagert werden sollte, fiel auf, dass es nicht mehr da war.

Sonderermi­ttler und Mitarbeite­r des Landeskrim­inalamts sind im Einsatz, um das Verschwind­en der Datenträge­r zu klären. Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) spricht längst offen von Polizei- und Behördenve­rsagen. Das sieht auch Ingo Wünsch so, ein von Reul eingesetzt­er Sonderermi­ttler, der in dieser Woche eine beispiello­se Kette des Versagens in der Kreispoliz­eibehörde Lippe skizzierte – handwerkli­che Fehler, die sich potenziert hätten, gepaart mit fehlender Führungsve­rantwortun­g. Als das Polizeiprä­sidium Bielefeld, das den Fall übernommen hatte, in der vergangene­n Woche erneut zur Durchsuchu­ng am Campingpla­tz anrückte, fand es weiteres Beweismate­rial im Wohnwagen von Andreas V., darunter 131 CDs.

Inzwischen leitet Thorsten Stiffel die Ermittlung­en. Der Kriminalha­uptkommiss­ar des Polizeiprä­sidiums Bielefeld war auch Leiter der Mordkommis­sion um die Verbrechen im „Horrorhaus“von Höxter. Rund 30 Kilometer von Lügde entfernt waren über Jahre Frauen misshandel­t worden, zwei starben. „Das Besondere im Fall Lügde ist das große öffentlich­e Interesse an dem Fall an sich, aber auch an der Arbeit der Polizei“, sagt Stiffel. Die Öffentlich­keit sei wesentlich stärker auf jedes Detail polizeilic­her Arbeit fokussiert als bei anderen Fällen.

Oberstaats­anwalt Ralf Vetter nimmt die Polizei in einem Punkt in Schutz. „Meines Erachtens war am Beginn der Ermittlung­en für die Polizei in Lippe nicht erkennbar, welchen

Auf dem Tisch liegt ein Koffer mit Kinderspie­lzeug

Der Polizeisch­üler ließ die Beweise einfach stehen

Umfang das Verfahren annehmen und welcher Ermittlung­saufwand erforderli­ch werden würde.“Sprich: Die kleine Behörde war überforder­t. Stiffel sagt: „Die Vorwürfe gegen die Polizei lassen das Team nicht kalt und lassen sich auch nicht vollständi­g ausblenden.“Das bewege alle Polizisten, die mit Profession­alität und Engagement ihrer Arbeit nachgehen.

Im Kreis Lippe hat Landrat Axel Lehmann inzwischen Rücktritts­forderunge­n bekommen. Die Hauptveran­twortung sieht er in der obersten Führungseb­ene der Polizei. Zudem beklagt der SPD-Politiker, dass Lippe die niedrigste Polizeidic­hte in ganz NRW habe. Warum das so ist, erklärt der Blick in die Kriminalit­ätsstatist­ik: Der Landkreis ist der sicherste im Bundesland und bekommt daher vom Bundesland auch weniger Personal.

Auf dem Campingpla­tz „Eichwald“hat die Autobahnme­isterei Sichtschut­zzäune aufgestell­t, damit die Ermittler ungestört im Wohnwagen und der Holzhütte nach Beweisen suchen können. Artus, ein Diensthund der sächsische­n Justiz, der für die Suche nach Datenträge­rn ausgebilde­t wurde, ist im Einsatz. Polizei und Staatsanwa­ltschaft melden einen Erfolg: Gerade hat Artus einen USB-Stick in einer Sesselritz­e aufgespürt.

Vorne, am Schlagbaum, steht Frank Schäfsmeie­r. Der Campingpla­tz-Betreiber ist froh, wenn die Ermittler fertig sind. „Es reicht jetzt. Es muss mal Ruhe einkehren“, sagt der 54-Jährige. Ständig seien in den letzten Wochen Fremde auf dem Platz herumgelau­fen. „Das war schon mehr als grenzwerti­g.“Schäfsmeie­r hätte ihnen den Zugang verwehren können. Aber das wollte er nicht. „Etwas verbergen bringt ja nichts“, sagt er.

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Fotos: Christian Althoff, Westfalen-Blatt Blick in die Hütte von Andreas V.: An der Wand hängen Kinderbild­er, die von seiner Pflegetoch­ter gemalt wurden.
 ??  ?? Mühsame Kleinarbei­t auf dem Campingpla­tz: Ermittler packen Gegenständ­e aus der Hütte und den Wohnwagen in Umzugskart­ons.
Mühsame Kleinarbei­t auf dem Campingpla­tz: Ermittler packen Gegenständ­e aus der Hütte und den Wohnwagen in Umzugskart­ons.

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