Gewerkschaft hinter Gittern
Justiz In Deutschland gilt der Mindestlohn – nicht aber für Häftlinge. Sie verdienen knapp zwei Euro in der Stunde, in die Pflege- und Rentenversicherung zahlen sie nicht ein. Dagegen hat sich eine Gewerkschaft formiert
Augsburg Fast vier Jahre lebte Markus Richter, 52, hinter Gittern. Wegen einer Beziehungstat. Das Urteil hatte er eingesehen. Was er nicht erwartet hatte, war, dass „die mich damals zwar zum Freiheitsentzug verurteilt haben, aber dass meine Strafe weit darüber hinausgeht. Das hat mir keiner gesagt“. Haft bedeutet neben einem Leben auf acht Quadratmetern vor allem Arbeit. Von morgens sieben bis nachmittags 16 Uhr. Als Kalli – wie im KnastJargon der Hausarbeiter bezeichnet wird – war Richter erst für die Essensausgabe und Reinigung zuständig. Weil er sich dabei gut angestellt hatte, durfte er später in die Küche. Sein Monatsgehalt in der Kantine: 300 Euro. Allerdings zahlte die Haftanstalt ihm davon nur drei Siebtel aus. Der Rest bekam er als sogenanntes Überbrückungsgeld am Tag seiner Entlassung.
Normalerweise ist in Deutschland der Mindestlohn vorgeschrieben – der gut viermal so hoch ausfällt wie der durchschnittliche Verdienst der rund 63000 Häftlinge im geschlossenen Vollzug. Auf Richters „Lohnschein für den Monat Oktober 2016“ist dagegen vermerkt: Arbeitsbereich 311, Fachkraft Küche, Stundenlohn 1,81 Euro.
Das Problem für die Häftlinge ist dabei vor allem, dass sie nicht in die Pflege- und Rentenversicherung einzahlen. Sie gelten nicht als Arbeitnehmer. Die Altersarmut vieler Insassen ist dadurch vorgezeichnet.
Gleichzeitig haben die Haftanstalten die Arbeitskraft ihrer Insassen als lukrative Einnahmequelle erkannt. Längst sind die Häftlinge nicht nur dafür verantwortlich, dass der Betrieb innerhalb der Anstalt funktioniert. Die Insassen produzieren auch für staatliche Institutionen. Schneidern Richterroben oder bauen Stühle für das Berliner Abgeordnetenhaus. Aber vor allem Unternehmen haben die Arbeitskraft der Gefangenen für sich entdeckt. Auf der Website der bayrischen Justizvollzugsanstalten heißt es etwa: „Wir sind in der Lage, vielfältige Leistungen für Sie kostengünstig auszuführen: Produzieren Sie mit Ihren Maschinen und unseren Arbeitskräften in unseren Betriebsstätten.“Im Online-Shop können Privatkunden Tischdecken, Gartenbänke oder Kräuteressig erwerben. Für fremde Unternehmen arbeiten etwa in der Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen nach eigenen Angaben 50 bis 70 Gefangene. Je nach Vergütungsstufe verdienen sie dort pro Stunde zwischen 1,26 Euro und 2,10 Euro.
Außerhalb Bayerns sieht es nicht anders aus: In der JVA Tegel etwa stellen die Insassen Grills her. In nordrhein-westfälischen Haftanstalten lässt Miele produzieren. Sowohl Unternehmen als auch die Justizanstalten halten sich bezüglich der Kooperationen bedeckt. Die meisten Informationen darüber stammen von den Häftlingen selbst. Aber auch die wissen nur selten, für wen sie eigentlich arbeiten. Auch die JVA Augsburg-Gablingen will dazu keine Angaben machen.
Pech haben die Dienstleister auf der anderen Seite der Gefängnismauer, die sich an die Regeln der Marktwirtschaft halten müssen. Immer wieder klagen Unternehmer über massive Einbußen, weil sie mit den Preisen der Haftanstalten nicht mithalten können.
Die Ausbeutung der Gefangenen müsse aufhören, meint Oliver Rast, der 2014 die deutsche Gefangenengewerkschaft, kurz GG/BO, gegründet hat. Rast saß selbst für dreieinhalb Jahre in Haft, er war Mitglied in der linksextremen „Militanten Gruppe“. In der JVA Tegel arbeitete er als Buchbinder. Für 11,85 Euro – am Tag. Heute setzt er sich für die Rechte von Häftlingen ein. Nach eigenen Angaben hat die Ge- werkschaft inzwischen über 1000 Mitglieder, vertreten ist sie in den meisten Anstalten des Landes.
Und die GG/BO muckt auf: Zwar ist die Niederlegung der Arbeit für Menschen, für die gesetzlich Arbeitszwang besteht, schwer möglich. Aber die Häftlinge wissen zu protestieren. Da werden die Waren so manipuliert, dass der Kunde sie reklamiert. Oder es wird, wie etwa in der JVA Butzbach, Bummel- und Hungerstreik ausgerufen.
Die Kernforderungen der Gefangenengewerkschaft beziehen sich auf den Mindestlohn und die Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung. Häftlinge sollen wie Arbeitnehmer behandelt werden – weil sie wie Arbeitnehmer arbeiten. Die Justiz aber argumentiert: Weil die Häftlinge eben keine Arbeitnehmer sind, sei die Gewerkschaft gar keine Gewerkschaft und habe darum auch nicht als solche aufzutreten. Denn laut Rechtsprechung kümmere sich eine Gewerkschaft ausschließlich um die Rechte von Arbeitnehmern. Im Moment gilt die GG/BO als nichteingetragener Verein.
Das Kammergericht Berlin sprach im Juni 2015 Gefangenen der JVA Tegel die Koalitionsfreiheit ab, also das Recht, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren. Die Begründung lautete: Die Koalitionsfreiheit gelte nicht für Gefangene, weil Gefangenenarbeit nicht nur eine resozialisierungsorientierte Maßnahme darstelle, sondern als Teil der Strafe zu verstehen sei.
Kirstin Drenkhahn, Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Freien Universität Berlin, hält diese Argumentation für verfehlt. „Offenbar haben viele Juristen noch nicht verstanden, dass Grundrechte auch für Strafgefangene gelten.“Ihrer Meinung nach ist die Begründung des Kammergerichts nicht mit der Verfassung vereinbar.
Drenkhahn hält die Forderungen der GG/BO für angemessen, zumal Ex-Häftlinge nach ihrer Haftentlassung häufig keinen Job fänden. „Ich kann mir zwar gut vorstellen, dass viele Menschen glauben: ‚Das geschieht denen recht.’ Aber Häftlinge haben eine Freiheitsstrafe und keine Vermögensstrafe bekommen.“Das belegt auch das Beispiel von Markus Richter. Am Ende seiner Haft blieb ihm ein Überbrückungsgeld von 3000 Euro. Hätte seine Familie nicht zu ihm gestanden, er hätte am Tag seiner Entlassung nicht gewusst, wie er weiterleben soll.
Was die Forderung der GG/BO nach dem Mindestlohn angeht, sieht Drenkhahn für den Staat sogar Vorteile. Schließlich sei der Mindestlohn ein Bruttolohn, von dem Steuern sowie Sozial- und Rentenversicherungsbeiträge abgingen, die jedem zugutekämen.
Auf Nachfrage argumentiert dagegen das bayrische Justizministerium, die Arbeit diene vor allem der Resozialisierung. Um durch den geringen Lohn Geld zu verdienen, darum gehe es nicht. Laut Ministerium hat der Freistaat in den vergangenen Jahren über 40 Millionen
Viele Unternehmen lassen im Gefängnis produzieren
Der Freistaat steckt viel Geld in den Strafvollzug
Euro ausgegeben, um neue Arbeitsbetriebe zu schaffen und bestehende zu sanieren. Die Arbeitseinnahmen im bayerischen Justizvollzug hätten dabei 2018 nur etwa 39 Millionen Euro ausgemacht. Insgesamt musste Bayern für die Unterbringung seiner Gefangenen im selben Jahr 436 Millionen Euro ausgeben. Von einem ertragsreichen Geschäftsmodell könne nicht die Rede sein.
Um ihre Ideen vom Mindestlohn durchzusetzen, hat die Gefangenengewerkschaft GG/BO in der Vergangenheit auch außerhalb der Gerichtssäle versucht, Verbündete zu gewinnen. Nach Angaben von Oliver Rast fanden hinter verschlossenen Türen Gespräche mit der Piratenpartei und Verdi statt. Bis heute aber wagt offenbar niemand, sich öffentlich zur GG/BO zu bekennen. Einzig die Humanistische Union setzte ein Zeichen, indem sie den Fritz-Bauer-Preis 2016 an die Gefangenengewerkschaft verlieh.
Knast-Gewerkschafter Rast ist dennoch überzeugt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die GG/ BO anerkannt wird. Die „organisatorische Stärke“die es dafür brauche, sei inzwischen erreicht. Im Mai dieses Jahres wird der Verein sein fünfjähriges Bestehen feiern. Bis dahin könnte er zumindest eines seiner Ziele erreicht haben: Am 7. Juni 2018 hatten die Justizminister nach der 89. Justizministerkonferenz die Einbeziehung von Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in die gesetzliche Rentenversicherung als „grundsätzlich sinnvoll“erklärt. Das umzusetzen ist nun Aufgabe des Bundes.