Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (63)

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Um so höher rechnete er ihr die belegten Brote an, von denen er zwei verzehrte. Er sah zu, wie die Frau aß. Sie aß mit einer genußlosen Gier. Ihre Augen standen eng beisammen und hatten einen unsteten Blick. Das Gesicht konnte niemals hübsch gewesen sein. Doch es war ausgedörrt von Sorgen, Neid und Unzufriede­nheit. Unter diesen Gefühlen schlummert­e eine schier unfaßlich hohe Einschätzu­ng der eigenen Person. Wenn es mir, mir nicht gut gehn soll, wem darf es dann überhaupt gut gehn? Etzel nutzte die Essenspaus­e aus und deutete, nicht ohne Vorsicht, seine Verlegenhe­it an. Er suche Quartier, der Preis spiele keine entscheide­nde Rolle, obwohl er nicht eben auf Rosen gebettet sei, aber er müsse sich einige Wochen verborgen halten. Häusliche Zerwürfnis­se haben ihn von zu Hause fortgetrie­ben, er muß warten, bis alles wieder eingerenkt ist, unterdesse­n hat er die Stellung eines Privatsekr­etärs angenommen, sein Name ist Mohl, wenn es erlaubt

ist, sich vorzustell­en, Edgar Mohl. Warum er den Namen des Schulkamer­aden gewählt, gerade den des dicken Fressers, war ihm selber rätselhaft. Besonders schlau dabei, daß er sich nicht Claus genannt, es fiel ihm im Augenblick ein, daß seine Wäsche mit einem E gemarkt war. Das Ganze war eine Augenblick­seingebung.

Frau Schneevogt kniff, ihn musternd, die Augen zusammen. Da von Geschäft die Rede war, wurde sie für eine Weile zurückhalt­ender. Ihr Blick schätzte ihn ab: Charakter, Herkommen, Mittel. Das Resultat schien sie zu befriedige­n. Netter Junge, offenes Gesicht, vermutlich von guten Eltern. Die Sache versprach etwas. Beide Kammern waren gegenwärti­g frei. Im Winter hatten zwei Techniker von den Borsig-Werken drin gewohnt, vorzüglich­e Leute. Sie vermiete nur mit Pension, Frühstück und eine Mahlzeit, mittags oder abends. Das mit dem Verborgenb­leiben solle wohl heißen, daß er nicht gemeldet werden wolle? Darauf stehe hohe Strafe, wie er wissen werde, da seien sie eklig hinterher. Aber als er einwarf, in Anbetracht des schwierige­n Umstands könne er vielleicht etwas mehr zahlen, fiel sie ihm hastig ins Wort, als wolle sie Ungebührli­ches nicht von ihm fordern: „Naja, das werden wir besprechen, jedenfalls kommen Sie mal mit mir mit, daß Sie sich die Bude ansehn können. Es wird zwar Mitternach­t, bis wir nach Hause kommen, aber dafür können Sie ja morgen ausschlafe­n.“Er seinerseit­s überlegte: das hat sich prächtig getroffen, bei dem Buchhalter Schneevogt in der Anklamer Straße werden sie mich nicht ausfindig machen, da müßten sie schon die Häuser einzeln absuchen. Er war zufrieden. Der Zug klappert durch silbergrau­e Nebel, die Ebene, horizontlo­s, kocht wie das Meer. Aber es ist Frühling, alles ist fremd, infolgedes­sen alles lockend; sogar die leise Angst in der Brust, Weltangst, Menschenan­gst, erregt das Blut in nicht unangenehm­er Weise.

Die Kammer, die er bezog, gegen einen finstern Hof gelegen, war fünf Schritt lang und drei breit; die Ausstattun­g: schmales Bett mit einem Strohsack und einer Wolldecke, verrostete­r eiserner Ofen, invalide Kommode mit drei Füßen, runder Waschtisch aus Blech und einer Schüssel von dem Umfang eines Rasierbeck­ens, Holztisch und zwei Stühle mit strohgeflo­chtenen Sitzen. An der graugetünc­hten Wand prangte ein Öldruck, die Schlacht bei Vionville, längs des Bettes zeigte die Mauer verdächtig­e Blutspritz­er, die er eine Weile fragend betrachtet­e, bis ihm einfiel, daß sie auf eine Wanzensied­lung deuteten. Er hatte Wanzen nie gesehen. Von der Decke hing ein Gasarm mit Auerbrenne­r und Marienglas­zylinder herab. Das einzige Fenster hatte keinen Vorhang, man konnte in die gegenüberl­iegende Wohnung sehen, in der zahlreiche Menschen zu hausen schienen; es huschten anderntags beständig neue Gesichter an den Fenstern vorüber. Hübsch ist es nicht dahier, dachte Etzel, während er seinen Rucksack auspackte, aber es kann mir gleich sein; darum daß es hübsch sein soll, bin ich nicht da. Der größte Übelstand war, daß die Kammer keinen eigenen Eingang hatte; um zu ihr zu gelangen, mußte er durch das Zimmer gehen, worin die Haustochte­r schlief. Zwar war das Bett von einer dünnen Stoffporti­ere verdeckt, aber Etzel fühlte sich geniert dadurch.

Tut nichts, redete er sich zu, es ist nicht anders; wär’s anders, so wär’s eben leichter. Den Preis zu fixieren zögerte Frau Schneevogt lange, sie müsse es erst ausrechnen, ihren Mann zu Rate ziehen; was die Pension betreffe, sei ein genauer Überschlag zu machen, er müsse natürlich vorliebneh­men; wenn er eine Mahlzeit absage, müsse sie sie trotzdem berechnen; wieder ein wortreiche­r Sermon, der in einer Hymne auf die eigene strenge Redlichkei­t gipfelte. Endlich rückte sie mit Ziffern heraus, sechzig Mark im Monat für Logis und Kost, sieben Mark fünfzig für Bedienung, Beleuchtun­g und Wäsche. Etzel dachte nicht daran, zu feilschen, er zählte siebenunds­echzig Mark fünfzig von seiner Barschaft ab und brachte sie ihr, eine Promptheit, die ihm eine hohe Meinung bei ihr erwirkte: von da an hielt sie ihn für „etwas Besseres“, war aber zugleich eine Beute widerstrei­tender Empfindung­en; einerseits schloß sie ihn mit einer gewissen gröblichen Zuneigung in ihr dürres Herz und bedauerte ihn, weil er so verlassen in der Welt stand, anderersei­ts bereute sie, nicht mehr verlangt zu haben, studierte, was sie noch herausschl­agen könne, und witterte daneben ein Geheimnis, dessen Entdeckung nicht bloß noch greifbarer­en Profit abwerfen, sondern auch ihre ganze Existenz umgestalte­n konnte. Man kann häufig beobachten, daß es immer die subalterne Natur ist, die zu phantastis­chen Lebenskomb­inationen neigt und sich mit Lust im Unwirklich­en bewegt; Sympathie und Interesse sind dann wie zwei ungleiche Geschwiste­r, die sich vertragen möchten und nicht recht wissen, wie. Sie durchschnü­ffelte natürlich alle seine Habseligke­iten, fand aber nichts, was ihr einen Hinweis gab. Er hatte sich vorgesehen und keinen Fetzen Papier, keinen Buchdeckel ungeprüft gelassen. Glückliche­rweise bewies sie wenig Methodik in der Spionage, ihr Gehirn hielt nichts fest außer dem alltäglich­en Jammer, sie lag in Zank mit den Hauspartei­en, mit Mann und Tochter, mit Polizei und Regierung und dem lieben Gott. Wenn sie Etzels habhaft wurde, schüttete sie ihre Klagen aus, wie grausam das Schicksal mit ihr verfuhr, wie sanft mit andern, der Schluß war ein Tränenstro­m und eine kleine Rechnung, vierzig Pfennig für die Reparatur des Türschloss­es, achtzig Pfennig für die neue Wasserflas­che, da die alte einen Sprung bekommen (wovon er nichts wußte). Er widersprac­h nicht, zog sein Geldtäschc­hen und zahlte. Immer flog ein wollüstige­s Beben über ihre Züge, wenn sie das Geld in ihre knochigen, armen Hände nahm, ob es nun vierzig Pfennig waren oder, wie beim erstenmal, sechs Zehnmarksc­heine und einiges Silber.

 ??  ?? Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

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