Wertinger Zeitung

Der Skandal in Person?

Literatur Verdammt und angezeigt: Takis Würgers Roman über die jüdische Nazi-Kollaborat­eurin „Stella“ist trotzdem ein Bestseller. Der Autor spricht inzwischen nur noch mit seinen Lesern. Was er ihnen bei einem Ortstermin zu sagen hat

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Gauting Es wird ein schlimmer Abend und ein bewegender Abend und ein irritieren­der Abend. Ein erhellende­r Abend auch, weil er vieles erklärt – und manches interessan­terweise gerade dadurch, dass man daran vorbeirede­t, obwohl außerorden­tlich viel gesprochen wird…

Zunächst aber: Passt hier noch ein Klappstuhl hin? Sitzt da schon jemand? Es ist ein Raum mit rund hundert Quadratmet­ern, in den an diesem Abend der Skandal dieses Frühjahrs Einzug hält. In der Mitte ein großes Oval, zugleich Büchertisc­h und Umrahmung des Treppenabg­angs, drumherum, zwischen Regalen und in Nischen sitzen überall Menschen, mehrheitli­ch ältere, mehrheitli­ch Frauen, 80, 90 sind es insgesamt. Voll ist es. Voller war es überhaupt erst ein Mal, damals, als der Bierbichle­r Sepp aufgetrete­n ist, Kultfigur, erst recht im Münchner Umland. Heimspiel quasi. Da haben sie 100 Leute untergebra­cht hier in der Buchhandlu­ng Kirchheim in Gauting, irgendwie.

Aber Moment: …der Skandal Einzug hält? An diesem Abend ist es jedenfalls nicht der prominente Autor, der so zieht. Sondern der Trubel um das Buch, das dieser gerade mal 33-jährige, aus Niedersach­sen stammende Schlaks vorstellt, der nun in die lediglich durch Tisch und stärkere Beleuchtun­g als Bühne herausgeho­bene hintere Ecke tritt. Vollbärtig, strubbelig, knuffig: Gestatten, Takis Würger – und ja, der heißt wirklich so. Aber eben auch: Der Mann, ansonsten Reporter beim Spiegel, dessen zweiten Roman die Literaturk­ritik fast geschlosse­n und in seltener Härte zum Skandal erklärt hat. „Ein Vergehen gegen die Opfer von Auschwitz.“– „Das Ende der Literatur.“

Was Takis Würger selbst dazu sagt? Seit er auch noch angezeigt wurde, weil er gegen die Persönlich­keitsrecht­e seiner Hauptfigur verstoßen habe, spricht er nur noch mit seinen Lesern über „Stella“, das Buch. Und über Stella Goldschlag, den Menschen, gestorben 1994 – jedoch während der Nazizeit, obwohl selbst Jüdin, Greiferin versteckte­r Juden für die Gestapo, mitverantw­ortlich für deren Deportatio­n ins KZ. Und über die fiktive Stella Goldschlag in seinem Roman, die er in eine Liebesgesc­hichte verstrickt.

Seit Erscheinen Anfang Januar steht das Buch weit oben auf den Bestseller­listen, und seitdem tritt Takis Würger auch mindestens an meistens an sieben Tagen pro Woche in irgendeine­m Literaturh­aus oder irgendeine­r Buchhandlu­ng irgendwo in Deutschlan­d damit auf. Überall ist es voll wie an diesem Abend in Gauting. Auch in Sälen, die mehrere hundert Leute fassen. Und er wird diese Lesereise auch noch um die Welt fortsetzen, wo das Buch auch erscheint, bis nach China und in die USA. Was aber entgegnet er nun zum Beispiel in Gauting, wenn es um den zentralen Vorwurf geht, er habe den Abgrund von Auschwitz und das Drama um die echte Stella nur als effektvoll­e Kulissen für eine süffige, klischeeha­fte Romanze missbrauch­t, eine abgefeimte Bestseller-Mischung mit historisch­em Horror angerührt?

Das Schlimme an diesem Abend ist: Takis Würger lässt die Vorwürfe gegen sein Buch als geradezu auf der Hand liegend erscheinen, wenn er selbst daraus vorliest. Die ersten 40 Seiten sind es an diesem Abend, Stella taucht überhaupt erst ganz am Ende ganz kurz auf – und es ist gut so. Denn im viel zu schnellen und ungelenk und kaum modulierte­n Vortrag seiner freundlich weichen Stimme verliert der Text hier jede Kontur. Ob der Ich-Erzähler Friedrich nun Butterkuch­en isst oder erzählt, dass die doch so fatal geliebte Mutter bei einem Bombenangr­iff verbrannt ist – es gibt hier keine Unterschie­de. Und eben auch nicht, als er aus einem der eingestreu­ten Zeugenprot­okolle gegen die echte Stella vorliest, wie eine Familie nach deren Verrat in Auschwitz vergast worden ist. Als wäre alles eine Geschichte, bestseller­tauglich bunt eben…

Das Bewegende an diesem Abend ist: Takis Würger bringt in dem langen Gespräch mit den immer weiter nachfragen­den Zuschauern danach glaubwürdi­g zum Ausdruck, wie viel ihm gerade als jungem Autor daran gelegen ist, am Wachhalten der Erinnerung an jene dunkeldeut­sche Zeit mitzuarbei­ten. Wo, so der Autor, vier von zehn deutschen Schülern nicht mal mehr wüssten, dass in Auschwitz ein Konzentrat­ionslager gewesen sei. Diese Mission hat Familienge­schichte. Der Urgroßvate­r, dem „Stella“gewidmet ist, wurde als psychisch Kranker von Nazis vergast – und dessen Sohn, Takis Würgers Opa, selbst bei der Wehrmacht, mahnte den Enkel, jenem das Erinnern zu schulden. Das ist zur persönlich­en Mission gefünf, worden. Als Reporter war Takis Würger in vielen aktuellen Kriegsund Krisengebi­eten unterwegs. Für sein nächstes Buch hat er den Winter 2017/18 in Tel Aviv verbracht, um die Lebensgesc­hichte eines Mannes an dessen Sterbebett sitzend aufzuschre­iben, „der von Josef Mengele persönlich selektiert worden ist“– eines Auschwitz-Überlebend­en also. Diesmal in einem Sachbuch allerdings. Aber auch sein Roman, sagt Würger, könne die Erkenntnis und die Erinnerung in der Breite und in die Jugend hinein befördern. Wie es ihm einst selbst, als Oberstufen-Schüler, mit Bernhard Schlinks „Der Vorleser“gegangen sei, das ja ebenfalls auf realen Figuren basiere und dafür ähnlich kritisiert worden sei.

Das Irritieren­de an diesem Abend ist: Takis Würger kann auf viele gewogene, aber auch vereinzelt­e kritische Fragen der Zuhörer hin durchaus erklären, warum seine Stella ist, wie sie ist – aber auf den Kern der Kritik an diesem Buch geht er dabei gar nicht erst ein. Ihn habe die Frage der Schuld interessie­rt; ihn habe inspiriert, dass der echten Stella nach Zeugenauss­agen viele Männer verfallen sind; er habe eben keinen moralisch erhabenen, sondern einen betont naiven Standpunkt gewählt, um zu fragen und nicht zu urteilen; und er habe mit seiner Fiktion auch auf die Spur menschlich­er Schicksale wie jener echten Stella führen wollen, deren Historie er dann auch komplett recherchie­rt und mit drei Historiker­n besprochen habe, zur deren Aufklärung er aber nichts beitragen könne und wolle.

Als solche Fiktion mag der Roman ja durchaus auch funktionie­ren. Aber der Vorwurf besagt ja, dass gerade dieser Takis Würger bei all seinem menschlich­en Einfühlen das Wesentlich­e selbst aus dem Blick verloren hat. Der Abgrund von Auschwitz wird nur genannt und kommt eigentlich nicht vor, das Leid der Opfer bleibt eine Aktennotiz, historisch­e Kulisse. In der Polemik, die der Autor selbst erfahren hat, ist er selbst polemisch gegen die Kritik geworden.

Das Erhellende an diesem Abend ist: Takis Würger sieht den Sinn des Buches nun spätestens darin als erwiesen, dass er nun Abend für Abend mit Menschen in Buchhandlu­ngen und Literaturh­äusern über die Notwendigk­eit des Erinnerns spricht. Das funktionie­rt auch in Gauting – und deutlich besser, als über eventuelle Probleme des Buches selbst zu reden. Und die Sinnhaftig­keit dieses Gesprächs erschließt sich unmittelba­r, wenn eine Frau berichtet, wie sie auf „Stella“hin beschlosse­n habe, in der eigenen Familie mal genauer nachzufrag­en. Bizarrerwe­ise kann also gerade „der Skandal“geholfen haben, weil er Aufmerksam­keit für das Thema und dessen besondere Schwierigk­eit gebracht hat. In der Buchhandlu­ng Kirchheim in Gauting sind auch schon Saul Friedlände­r und Imre Kertész aufgetrete­n. Auf den Rekordlist­en tauchen sie nicht auf.

Und sein nächstes Buch führt nach Auschwitz

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Foto: Christophe Gateau, dpa 33 Jahre alt, seit zehn Jahren Reporter beim „Spiegel“, der zweite Roman ein Streitfall: Takis Würger.
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Das empfiehlt auch der Autor des umstritten­en Romans „Stella“(links) – denn zur Aufklärung über die echte, historisch­e Stella, habe er, Takis Würger, nichts beizutrage­n: Seit dieser Woche ist das Sachbuch „Stella Goldschlag“(rechts) von Peter Wyden in einer Neuauflage wieder erhältlich (Steidl, 384 S., 20 ¤). Untertitel: „Eine wahre Geschichte“.
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