Touristen müssen wieder Gäste werden
„Overtourism“ist kein Schicksal: Wenn die Branche nicht am eigenen Erfolg ersticken will, muss sie auf die Menschen vor Ort zugehen – und ihren Kuchen teilen
Das Problem kann nicht gelöst werden, so lange es falsch analysiert wird: Overtourism heißt das Schreckgespenst der Reisebranche. Was es ist, kann am eigenen Leib erleben, wer keine Angst hat, sich im Sommer durch die Altstadt von Dubrovnik schieben zu lassen, auf Mallorca zwischen Wildpinklern und Erbrochenem Slalom zu laufen oder im Winter im großen Alpen-Skizirkus vom Après-SkiLärm einen Hörschaden zu riskieren. Kurz: zu viele Menschen, zu wenig Respekt und kaum zu bewältigende Mengen an Müll, Abwasser und anderen menschlichen Hinterlassenschaften.
Die Reisebranche eilt seit Jahren von Rekord zu Rekord. Allein die Zahl der touristischen Übernachtungen in Städten wuchs seit 2008 um 57 Prozent, mehr als doppelt so schnell wie die Übernachtungen in den jeweiligen Ländern insgesamt, so das Ergebnis einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung Roland Berger. Für die nächsten Jahrzehnte gehen die Fachleute von mehreren hundert Millionen zusätzlichen Reisenden weltweit aus – die meisten davon aus China.
Neue Kreuzfahrtschiffe können gar nicht groß genug sein. Mit dem Billigflieger geht es reuelos für ein Feierwochenende nach Berlin, Prag oder Bratislava oder zum Shoppen und Museumsbesuch nach Mailand. Und weil das Gefühl, ein authentisches Erlebnis zu haben, unbezahlbar ist, wird auch nicht im Hotel übernachtet, sondern in der über Airbnb gebuchten Wohnung im Szeneviertel. Kein Wunder also, dass die Menschen, die das zweifelhafte Glück haben, dort zu wohnen, wo andere Urlaub machen, an immer mehr Orten die Nase gestrichen voll haben.
Die Reisebranche, die sich von heute an wieder bei der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin trifft, kann den Druck, der sich an den besonders belasteten Tourismus-Hotspots aufgestaut hat, nicht länger ignorieren. Doch die Antworten, die den Verantwortlichen der Tourismusverbände und -unternehmen dazu bisher eingefallen sind, werden nicht reichen, die Zukunft ihres Geschäftsmodells zu sichern. Eine bessere Lenkung der Besucherströme mittels Handy-Apps und Online-Reservierungssystemen oder das Hochjubeln immer neuer Ziele, die noch abseits der Pflicht-Selfiespots der Generation Instagram liegen – das geht am Kern vorbei.
Overtourism lässt sich nicht allein an Zahlen festmachen. Wenn das Verhältnis zwischen Besuchern und Einheimischen groteske Dimensionen annimmt; wenn Mieten unerschwinglich werden, weil so viele Wohnungen dem regulären Markt entzogen werden; wenn Lebensmittelläden und Restaurants Nippesläden und Schnellimbissen weichen und der Verkehr vor der Haustüre jedes Wochenende zusammenbricht – dann sind das Kosten für die Menschen vor Ort, denen oft keine angemessene Beteiligung an den Profiten gegenübersteht.
Die Menschen werden weiterhin reisen. Das ist dennoch eine gute Nachricht. Denn fast jeder, der sich über zu viele Touristen beklagt, trägt selbst zum Problem bei. Dieses Bewusstsein wird zwangsläufig zunehmen – und das Reiseverhalten langfristig mehr verändern als Verbote und Einschränkungen. Die sind manchmal unumgänglich. Aber die Reiseindustrie muss nachhaltig werden. Die Menschen fragen kritischer, wo lokale Wertschöpfung und anspruchsvolle Jobs bleiben, die mit der Ausweitung des Fremdenverkehrs kommen sollen – Stichwort UnescoWelterbesiegel. Am Ende läuft alles auf die Frage zu: Welchen Tourismus wollen wir? Einen, bei dem eine namenlose Touristenmasse das, was mal Heimat war, in ein Disneyland verwandelt? Oder einen, bei dem Gäste und Gastgeber einander respektieren?
Wer will die Heimat in ein Disneyland verwandeln?