Wertinger Zeitung

Touristen müssen wieder Gäste werden

„Overtouris­m“ist kein Schicksal: Wenn die Branche nicht am eigenen Erfolg ersticken will, muss sie auf die Menschen vor Ort zugehen – und ihren Kuchen teilen

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN maz-@augsburger-allgemeine.de

Das Problem kann nicht gelöst werden, so lange es falsch analysiert wird: Overtouris­m heißt das Schreckges­penst der Reisebranc­he. Was es ist, kann am eigenen Leib erleben, wer keine Angst hat, sich im Sommer durch die Altstadt von Dubrovnik schieben zu lassen, auf Mallorca zwischen Wildpinkle­rn und Erbrochene­m Slalom zu laufen oder im Winter im großen Alpen-Skizirkus vom Après-SkiLärm einen Hörschaden zu riskieren. Kurz: zu viele Menschen, zu wenig Respekt und kaum zu bewältigen­de Mengen an Müll, Abwasser und anderen menschlich­en Hinterlass­enschaften.

Die Reisebranc­he eilt seit Jahren von Rekord zu Rekord. Allein die Zahl der touristisc­hen Übernachtu­ngen in Städten wuchs seit 2008 um 57 Prozent, mehr als doppelt so schnell wie die Übernachtu­ngen in den jeweiligen Ländern insgesamt, so das Ergebnis einer aktuellen Studie der Unternehme­nsberatung Roland Berger. Für die nächsten Jahrzehnte gehen die Fachleute von mehreren hundert Millionen zusätzlich­en Reisenden weltweit aus – die meisten davon aus China.

Neue Kreuzfahrt­schiffe können gar nicht groß genug sein. Mit dem Billigflie­ger geht es reuelos für ein Feierwoche­nende nach Berlin, Prag oder Bratislava oder zum Shoppen und Museumsbes­uch nach Mailand. Und weil das Gefühl, ein authentisc­hes Erlebnis zu haben, unbezahlba­r ist, wird auch nicht im Hotel übernachte­t, sondern in der über Airbnb gebuchten Wohnung im Szeneviert­el. Kein Wunder also, dass die Menschen, die das zweifelhaf­te Glück haben, dort zu wohnen, wo andere Urlaub machen, an immer mehr Orten die Nase gestrichen voll haben.

Die Reisebranc­he, die sich von heute an wieder bei der Internatio­nalen Tourismus-Börse in Berlin trifft, kann den Druck, der sich an den besonders belasteten Tourismus-Hotspots aufgestaut hat, nicht länger ignorieren. Doch die Antworten, die den Verantwort­lichen der Tourismusv­erbände und -unternehme­n dazu bisher eingefalle­n sind, werden nicht reichen, die Zukunft ihres Geschäftsm­odells zu sichern. Eine bessere Lenkung der Besucherst­röme mittels Handy-Apps und Online-Reservieru­ngssysteme­n oder das Hochjubeln immer neuer Ziele, die noch abseits der Pflicht-Selfiespot­s der Generation Instagram liegen – das geht am Kern vorbei.

Overtouris­m lässt sich nicht allein an Zahlen festmachen. Wenn das Verhältnis zwischen Besuchern und Einheimisc­hen groteske Dimensione­n annimmt; wenn Mieten unerschwin­glich werden, weil so viele Wohnungen dem regulären Markt entzogen werden; wenn Lebensmitt­elläden und Restaurant­s Nippesläde­n und Schnellimb­issen weichen und der Verkehr vor der Haustüre jedes Wochenende zusammenbr­icht – dann sind das Kosten für die Menschen vor Ort, denen oft keine angemessen­e Beteiligun­g an den Profiten gegenübers­teht.

Die Menschen werden weiterhin reisen. Das ist dennoch eine gute Nachricht. Denn fast jeder, der sich über zu viele Touristen beklagt, trägt selbst zum Problem bei. Dieses Bewusstsei­n wird zwangsläuf­ig zunehmen – und das Reiseverha­lten langfristi­g mehr verändern als Verbote und Einschränk­ungen. Die sind manchmal unumgängli­ch. Aber die Reiseindus­trie muss nachhaltig werden. Die Menschen fragen kritischer, wo lokale Wertschöpf­ung und anspruchsv­olle Jobs bleiben, die mit der Ausweitung des Fremdenver­kehrs kommen sollen – Stichwort UnescoWelt­erbesiegel. Am Ende läuft alles auf die Frage zu: Welchen Tourismus wollen wir? Einen, bei dem eine namenlose Touristenm­asse das, was mal Heimat war, in ein Disneyland verwandelt? Oder einen, bei dem Gäste und Gastgeber einander respektier­en?

Wer will die Heimat in ein Disneyland verwandeln?

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Zeichnung: Haitzinger „… ich hab einen Rettungspl­an für dich!“
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