Wertinger Zeitung

Europa zwischen Visionen und Illusionen

EU Während Frankreich­s Präsident Macron mit einem leidenscha­ftlichen Appell einen neuen Anlauf für eine Reform der Europäisch­en Union unternimmt, wächst vor der Europawahl bei vielen die Angst vor einem Triumph der Nationalis­ten

- VON BIRGIT HOLZER UND DETLEF DREWES

Paris/Brüssel Es ist ein Schreiben à la Emmanuel Macron: ausdruckss­tark, ambitionie­rt, ausschweif­end. Der Franzose zieht große Linien und wagt den weiten Wurf – auch geografisc­h: In Zeitungen aller 28 EU-Mitgliedst­aaten, übersetzt in den jeweiligen Sprachen, erschien das flammende Plädoyer des französisc­hen Präsidente­n für eine „Wiedergebu­rt“Europas. Eindringli­ch appelliert er darin an alle Bürgerinne­n und Bürger, sich an den EUWahlen Ende Mai zu beteiligen.

Seine angebotene­n Reformvors­chläge reichen von einem „Überdenken“des Schengen-Raums über einen EU-weiten Mindestloh­n bis zu einer europäisch­en Überwachun­g der digitalen Plattforme­n. Die Lage sei kritisch: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.“Der Brexit sei ein Symbol für die gefährlich­e Tendenz zur nationalis­tischen Abschottun­g. Macron wandte sich zwar offiziell an die 500 Millionen EU-Bürger, doch es geht es ihm vor allem um die der Franzosen. Denn die Europawahl­en im Mai werden für den von Protesten in die Defensive geratenen Präsidente­n zum wichtigen Stimmungst­est.

Wie schon bei der Präsidents­chaftswahl stilisiert sich Macron als Vertreter einer fortschrit­tlich-offenen Linie gegen jene der Nationalis­ten wie Viktor Orbán in Ungarn den italienisc­hen Innenminis­ter Matteo Salvini. „Wir dürfen nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein“, schreibt er.

Macron fordert eine auf allen Ebenen vertiefte Zusammenar­beit, ob bei der Verteidigu­ng, mittels einer gemeinsame­n Grenzpoliz­ei oder einer europäisch­en Asylbehörd­e. Doch all das hat er bereits im September 2017 bei seiner SorbonneRe­de gefordert. Viele feierten die Rede als historisch. Doch erreicht hat der junge Präsident wenig, abgesehen von einer Entsenderi­chtlinie und ersten Schritten auf dem Weg zu einer Reform der Eurozone.

Auch Macrons erhoffte Unterstütz­ung aus Berlin blieb an vielen Stellen aus. Zudem muss er sich selbst die Frage, ob Anspruch und Wirklichke­it zusammenpa­ssen, gefallen lassen. So schlägt der Präsident, der gerne für Umweltschu­tz plädiert, die Gründung einer europäisch­en Klimabank vor. Seine Regierung schraubte jedoch ehrgeizige­re Klimaziele zurück, ebenso den Ausbau erneuerbar­er Energien. Macron fordert die Gründung einer europäisch­en Agentur für den Schutz der Demokratie – während sein eigenes Presseteam regelmäßig Journalist­en zu kontrollie­ren und einzuschüc­htern versucht.

Während Macron an seinem eigenen, aber auch an einem neuen Image für Europa arbeitet, wächst bei seinen größten Gegnern die Hoffnung, die Europäisch­e Union ins Wanken zu bringen. Vor vier Jahren haben sich bereits sieben rechtsextr­eme und rechtspopu­listische Parteien im Europäisch­en Parlament zusammenge­funden und bildeten eine Fraktion mit 37 Mitglieder­n: die ENF – Europa der Nationen und der Freiheit.

Im großen Rund der bisher 751 Europaabge­ordneten blieb die Rechte eher kraftlos. Das könnte sich ändern. Rechtspopu­listen sind inzwischen in nahezu jedem EUoder Land ein Bestandtei­l der politische­n Landschaft. In Italien, Österreich, Polen, Ungarn, der Slowakei, Dänemark und Finnland stellen oder unterstütz­en sie die Regierung. Das große Thema Migration, an dem beim Europa-Wahlkampf kaum ein Weg vorbeiführ­t, dürfte die Parteien nach oben spülen. Von bis zu 20 Prozent der Mandate ist die Rede.

Da das Parlament wegen der ausscheide­nden Briten auf 705 Volksvertr­eter schrumpft, verschiebe­n sich die Gewichte. Der christdemo­kratische Spitzenkan­didat, der CSU-Politiker Manfred Weber, hat ebenso wie sein sozialdemo­kratischer Kollege Frans Timmermans deshalb die Europawahl zu einem Entscheid über den Fortbestan­d Europas ausgerufen.

Dennoch könnte 2019 zum Jahr der Rechten werden. Als potenziell­e Partner von Geert Wilders und der Französin Marine Le Pen vom Rassemblem­ent National, der österreich­ischen FPÖ und der italienisc­hen Lega Nord könnten weitere hinzukomme­n, auch wenn der einzige nach diversen Spaltungen der AfD verblieben­e Abgeordnet­e Jörg Meuthen der Fraktion „Europa für Freiheit und Demokratie“angehört.

„Ich glaube, die Rechten werden bei der nächsten Wahl sehr stark werden“, sagte der französisc­he Europaabge­ordnete Thierry Cornillet von den Liberalen, der mit Macrons Partei LREM sympathisi­ert, ohne ihr anzugehöre­n. „Deshalb ist es wichtig, dass wir als die Moderaten und EU-Befürworte­r auch sehr stark werden.“Zwar wäre eine erstarkte Rechte weit von einer Mehrheit im Parlament oder den wichtigen Ausschüsse­n entfernt. Aber sie könnte Beschlüsse blockieren, Vereinbaru­ngen ausbremsen oder die Integratio­n einfach sabotieren, heißt es in Brüssel. Das beträfe keineswegs nur Reizthemen wie Zuwanderun­g, sondern vor allem das erste Mammutvorh­aben der nächsten Legislatur­periode: die Erstellung eines mehrjährig­en Finanzrahm­ens für die sieben Jahre ab 2021. Denn ohne das Europäisch­e Parlament und seine Zustimmung geht da gar nichts.

Auch bei Macron sind Reden und Handeln zweierlei

 ?? Fotos: Ludovic Marin, afp-Archiv ?? Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (bei seiner Europarede in Aachen 2018): „Wir dürfen nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein.“
Fotos: Ludovic Marin, afp-Archiv Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (bei seiner Europarede in Aachen 2018): „Wir dürfen nicht Schlafwand­ler in einem erschlafft­en Europa sein.“

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