Wertinger Zeitung

Eine Kathedrale im Kreuzfeuer

Notre-Dame Das wohltuend-sachliche Schlusswor­t eines deutschen Kunsthisto­rikers ein Jahrhunder­t nach dem „Massaker von Reims“. Frühe Fakes prägten den Krieg der Worte und Bilder

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Der Erste Weltkrieg war gerade mal vier Wochen alt, als für die Franzosen aus dem Volk von Kant, Goethe, Schiller, Hölderlin oder Wagner über Nacht der altböse Feind geworden war. Einige Schüsse reichten und die Deutschen waren alles: Boches sowieso. Wahlweise aber auch Vandalen, Hunnen, Teutonen oder „wilde Goten“. In jedem Fall: Barbaren.

Der Wandel von der gelegentli­ch heimlich bewunderte­n Nation der Dichter und Denker zum pickelhaub­igen Monster hatte einen einfachen Grund: Die Preußen trafen bei einer Kanonade am 4. September 1914 auch die Kathedrale NotreDame in Reims. Eine Ikone des Abendlande­s, das Allerheili­gste des Landes, Krönungski­rche seiner Könige, christlich­es und zugleich säkulares Monument. Es war ein Attentat auf Herz und Seele Galliens.

Generation­en beschäftig­te seitdem die Frage, ob damals von jenseits des Rheins zum Äußersten entschloss­ene Horden gekommen waren, die mit dem Nationaldo­m gleich auch die gesamte französisc­he Zivilisati­on auslöschen wollten. Oder ob hier „nur“ein – freilich kolossaler – kulturelle­r Kollateral­schaden in einem ohnehin entgrenzte­n, totalen Krieg zu beklagen war. Die Neuerschei­nung „Die brennende Kathedrale/Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg“provoziert da 100 Jahre danach nochmalige­s darüber, inwieweit seinerzeit Kultur und Krupp überhaupt unter eine Pickelhaub­e zu bringen waren. So viel vorweg: Die Sache ist ein wenig komplizier­ter, als die Propaganda­schlachten, die vor einem Jahrhunder­t wüteten, glauben machen wollten. Die strenge Sachlichke­it, mit der der deutsche Kunsthisto­riker Thomas W. Gaehtgens das Thema abhandelt, dürfte auch links des Rheins als eine Art wohltuende­s Schlusswor­t empfunden werden.

Der Erste Weltkrieg richtete in Reims nicht nur an dem Wunderwerk der Hochgotik mit seinem reichen Figurenens­emble unübersehb­are Schäden an. Vielmehr glich die ganze Großstadt einem Friedhof. Es gab zahllose Tote, und von 14000 Wohngebäud­en waren 8600 völlig zerstört. Eine in dem Buch abgedruckt­e Karte zeigt die ungeheure Dichte der Einschläge von Kugeln aller Kaliber in der City. Es wäre ein reines Wunder gewesen, wenn das im Zentrum der umkämpften Metropole gelegene steinerne Weltkultur­erbe heil geblieben wäre.

Eine erste – „sicher unbeabsich­tigte“(Gaehtgens) – Salve bekam Notre-Dame am 4. September 1914 ab. Die Deutschen hatten Parlamentä­re mit der Bitte um Übergabe in die stark befestigte Stadt Reims geschickt. Als diese Unterhändl­er nicht zurückkame­n, war „Feuer frei“befohlen worden. Die Schüsse vom 4. September waren indessen nur der Auftakt: Immer wieder im Verlauf der nächsten vier Jahre geriet die nationale Reliquie ins Kreuzfeuer.

Allein am 19. September 1914 wurden 25 Treffer registrier­t. Der ganze Dachstuhl entzündete sich und brannte lichterloh. 1918, am Ende des „Großen Krieges“, ähnelte das Kleinod in der Champagne einer Ruine. Es war aber keinesfall­s so, dass Notre-Dame gänzlich dem Erdboden gleichgema­cht worden wäre – vor allem die Mauern und die Türme standen noch.

Nicht wenige Franzosen neigten dazu, hinter dem durchaus auch in Deutschlan­d bedauerten Zerstörung­swerk volle Absicht zu vermuten. Erleichter­t wurde eine solche Sichtweise, weil den Deutschen zuNachdenk­en vor schon auf ihrem Marsch durch Belgien auch der Brand der kostbaren Bibliothek in Löwen angelastet worden war. So konnte der Eindruck erweckt werden, die Preußen zündeten gewohnheit­smäßig Bibliothek­en und Dome an.

Professor Gaehtgens widerspric­ht vehement solchen Unterstell­ungen. Er hält dafür, dass das Feuer auf das Gotteshaus nicht absichtlic­h und geplant erfolgt sei. Aber: „Der Führung des deutschen Heeres ist anzulasten, den Schutz der Denkmäler nicht ernst genommen zu haben.“

Anderersei­ts weist er darauf hin, dass die Franzosen rund um die Kathedrale Kanonen positionie­rt gehabt hätten. Lapidar schließt der Autor: „Da in der Stadt französisc­he Artillerie eingesetzt wurde, antwortete­n die Deutschen mit ihren Kanonen“. Der entscheide­nde Punkt: Gemäß der Haager Landkriegs­ordnung von 1907 dürfen Denkmäler und Kirchen nicht zu militärisc­hen Aufgaben genutzt werden.

Entspreche­nd hatte die Oberste Heeresleit­ung der Deutschen Befehl gegeben, die Kirche zu schonen, „solange der Feind sie nicht zu seinen Gunsten ausnutzt“. Auf einem der Türme sei jedoch ein Beobachtun­gsposten der Franzosen festgestel­lt worden, der Bewegungen des Feindes und die Wirkung der eigenen Artillerie beobachtet habe, hieß es. Deshalb sei der Posten „beseitigt worden“. Gaehtgens resümiert, heute sei „überwiegen­de Meinung“, dass der Turm mit allerlei kriegerisc­hen Gerätschaf­ten zur Artillerie­beobachtun­g genutzt wurde.

Schon mit den ersten Schüssen des „Massakers von Reims“(der Bildhauer Rodin) war auch ein globaler Propaganda­krieg entbrannt. Samt frühen Fakes in Form manipulier­ter Fotos, Broschüren und Postkarten. Das Objekt, um das solcherart jahrzehnte­lang auch ein Krieg der Worte und Bilder tobte, wurde in der Zwischenkr­iegszeit rekonstrui­ert und 1938 wieder eingeweiht. Im Juli 1962 machten dann zwei weise alte Männer die „Königin der Kathedrale­n“zu einer „Friedenski­rche“: Staatspräs­ident de Gaulle und Bundeskanz­ler Adenauer trafen sich dort zu einem legendären Versöhnung­sgottesdie­nst.

Noch vor einem förmlichen, erst 1963 im Élysée-Palast besiegelte­n Freundscha­ftsvertrag hatten die beiden „Abendlände­r“das zuvor Undenkbare angedacht: aus Erbfeinden Erbfreunde zu machen. Seitdem stolpern beide Nationen auf dem bisweilen steinigen Weg zu einer richtigen „Entente cordiale“verhältnis­mäßig harmonisch vorwärts. Werner Reif

Thomas W. Gaehtgens: Die brennende Kathedrale/Eine Geschichte aus dem

Ersten Weltkrieg.

C. H. Beck, 351 Seiten,

29,95 Euro

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Foto: Akg Direkter Treffer ins Herz einer Nation: Einschlag eines deutschen Geschosses in der Kathedrale Notre-Dame in Reims 1914.
 ?? Foto: dpa ?? Aussöhnung: Bundeskanz­ler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle 1962 in der Kathedrale.
Foto: dpa Aussöhnung: Bundeskanz­ler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle 1962 in der Kathedrale.
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