Wertinger Zeitung

„Wir haben sie doch nicht mehr alle!“

Live-Interview Sigmar Gabriel kann sich immer noch aufregen. Was ihn an den Debatten in Deutschlan­d ärgert, warum er nicht zurück an die SPD-Spitze will und wie er mit Donald Trump umgehen würde

-

Herr Gabriel, die SPD steckt im Tief, Sie selbst dagegen sind populär wie nie. Wie erklären Sie sich das?

Gabriel: Ich glaube, das hat nichts miteinande­r zu tun. Wenn ich auf Veranstalt­ungen rede, dann geht es ja nicht um Parteipoli­tik, sondern um die Frage: Was passiert da in der Welt, was heißt das für uns Deutsche? Es scheint so zu sein, dass viele Menschen das Bedürfnis nach Gespräch und Erklärung haben.

Was wollen die Leute denn wissen? Gabriel: Sie stellen jedenfalls ganz andere Fragen als wir manchmal glauben. Auf die Idee, eine Debatte mit mir zu beginnen, ob ein Karnevalsw­itz jetzt politisch korrekt war oder nicht, ist noch keiner gekommen.

Dienen Ihre Auftritte auch der Vorbereitu­ng eines Comebacks?

Gabriel: Ach Gott. Kriegt Ihr sonst keine Schlagzeil­en hin? Im Ernst: Es ist ausgesproc­hen angenehm, nicht mehr in der Rolle zu sein, alles gutreden zu müssen, was der eigene Verein macht und alles ganz schrecklic­h zu finden, was die anderen machen. Als ich in die SPD eingetrete­n bin, hab ich auch gedacht, die Schlauen sind nur bei uns und die anderen sind lauter Sumpfblüte­n. Und mit der Zeit stellt man dann doch fest, es ist wohl eher Gaußsche Normalvert­eilung.

Viele wünschen sich Ihre Rückkehr in die Politik, hat sich die SPD schon gemeldet?

Gabriel: Nee. Nur meine Frau hat gesagt: Du kommst doch wohl nicht auf dumme Gedanken?

Und? Kommen Sie auf dumme Gedanken?

Gabriel: Ich war fast acht Jahre Vorsitzend­er der SPD und das reicht auch – für alle Beteiligte­n. Ich gebe zu, dass mir damals der Rücktritt nicht leicht gefallen ist. Aber ich würde im Leben nicht auf die Idee kommen, das noch mal zu machen.

Ist es für Sie nicht schwierig, das Geschehen nur noch von der Seitenlini­e aus zu kommentier­en?

Gabriel: Ja, na klar. Ich bin ja auch nicht freiwillig gegangen. Aber es nützt auch nichts, wenn Sie da immer drüber nachdenken. Ich blicke jedenfalls nicht im Zorn zurück.

Was würden Sie denn momentan in der Politik gerne ändern?

Gabriel: Wir kümmern uns in Deutschlan­d sehr um die Gegenwart. Und ein bisschen auch um die Vergangenh­eit. Meine Sorge ist, dass wir unterschät­zen, was da morgen auf uns zukommt. Weil es bei uns momentan gut läuft, haben viele den Eindruck, es sei windstill. Meine Vermutung ist, dass das die Stille im Auge des Orkans ist. Da ist es immer windstill. Aber außerhalb von uns geht es ganz schön zur Sache.

Sucht sich die SPD die richtigen Themen? Sie haben gesagt, Ihre Partei dürfe nicht nur der Betriebsra­t der Nation sein.

Gabriel: Betriebsrä­te sind etwas Wichtiges, aber keiner würde auf die Idee kommen, ihnen das ganze Unternehme­n anzuvertra­uen. Wir dürfen uns nicht damit zufriedeng­eben, uns um die Sozialpoli­tik zu kümmern. Wir müssen uns auch fragen, wie wir weiterhin den wirtschaft­lichen Erfolg in Deutschlan­d sichern. Ist es zum Beispiel klug, dass man für einen vorgezogen­en Ausstieg aus der Braunkohle 80 Milliarden Euro ausgeben will und für künstliche Intelligen­z nur drei Milliarden? Ich bin nicht so sicher.

Sie sagen, wir verschlafe­n gerade die Zukunft: Ist es dann nicht unverantwo­rtlich von der Kanzlerin, ihre Nachfolge zu verschlepp­en?

Gabriel: Also, erst mal muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Art und Weise, wie sie Politik macht, scheinbar relativ erfolgreic­h ist. Angela Merkel hat ein paar große Vorzüge. Sie hat viel Humor, sie trägt ihr Amt nicht wie eine Monstranz vor sich her, das hat der Politik gutgetan. Aber jetzt leben wir in einer Phase, in der sich die Menschen wieder mehr Führung wünschen. Sie empfinden es als nicht ausreichen­d, wenn die ganze Welt kopfsteht und keiner in der Politik mal sagt: Übrigens, wir wollen da lang, um da durchzukom­men.

Also müsste Merkel auch als Kanzlerin vorzeitig Schluss machen? Gabriel: Wie die Union den Übergang gestaltet, ist ihre Sache. Aber ich persönlich glaube nicht, dass Angela Merkel so dumm ist, Annegret Kramp-Karrenbaue­r zweieinhal­b Jahre wie so einen Pudel neben sich herlaufen zu lassen.

Annegret Kramp-Karrenbaue­r hat ja gerade Ärger wegen eines Witzes über das dritte Geschlecht. Sie selbst hat dafür wenig Verständni­s. Und Sie? Gabriel: Ich kann das nur wiederhole­n: Wir müssen ein superglück­liches Land sein, dass wir uns über so etwas aufregen. Ich rege mich eher darüber auf, dass wir 40000 Lehrer zu wenig haben in Deutschlan­d. Das ist doch eine Debatte in den Medien und vielleicht einer, ich weiß nicht, Humorpoliz­ei. Haben wir vergessen, was der Begriff Narrenfrei­heit heißt? Der Strauß hat mal zum Wehner gesagt: „In dem neuen Mantel sehen Sie aus wie ein Kameltreib­er.“Das wäre ja schon eine Diskrimini­erung arabischer Minderheit­en gewesen. Der Wehner hat übrigens geantworte­t: „Das kann schon sein, aber richtig echt wirkt es erst, wenn Sie vor mir hergehen.“

Und heute wird darüber gestritten, ob Kinder im Fasching als Indianer gehen dürfen ...

Gabriel: Wir haben sie doch nicht mehr alle! Wir sind ein Land, das die Moral unheimlich hochhält. Dagegen habe ich ja nichts. Aber ein Beispiel: Wenn der türkische Präsident kommt, dann diskutiere­n wir drei Monate über die Frage, ob wir den eigentlich mit militärisc­hen Ehren empfangen dürfen. Also wenn Sie den einladen, ist es doch eine komische Vorstellun­g, zu sagen: Das erste, was ich mache, ist, dass ich den am Flughafen erst einmal schlecht behandle. Wenn Politik anfängt, sich völlig anders zu benehmen als der Rest der Leute, dann muss sie sich nicht wundern.

Machen wir Deutschen zu sehr Politik nach moralische­n Maßstäben? Gabriel: Es ist ja nichts Schlechtes, wenn man moralische Ansprüche hat. Aber das reicht nicht. Wir ärgern uns über Donald Trump deshalb so sehr, weil er uns jeden Tag den Unterschie­d zwischen unseren Ansprüchen und unseren Möglichkei­ten zeigt. Es darf nicht immer nur um Werte gehen, sondern es muss auch um Interessen gehen. Es ist zum Beispiel ein deutsches Interesse, Europa zusammenzu­halten, weil wir alleine in der Welt von morgen zu klein und zu schwach sind.

Von einem starken Deutschlan­d sind aber auch nicht alle begeistert. Gabriel: Bevor wir in Deutschlan­d etwas entscheide­n, müssen wir mit den anderen, gerade mit den Kleinen in Europa reden und verstehen, wie die eigentlich denken. Die alte Bonner Republik konnte das ganz gut. Der Kohl, der Schmidt, der Genscher – die gingen erst einmal alle zu den Kleinen, bevor sie erklärt haben, was Deutschlan­d macht. Die Berliner Republik ist dagegen ein bisschen großspurig. Vieles in Europa hängt von uns ab. Und andere haben dann die Sorge, dass wir sie missachten.

Wäre es nicht gerade deshalb wichtig, dass Deutschlan­d auf die neuen Ideen von Frankreich­s Präsident für Europa eingeht?

Gabriel: Was immer Emmanuel Macron vorschlägt, Deutschlan­d lässt ihn am ausgestrec­kten Arm verhungern. Ich habe keine Erklärung dafür. Wir verpassen eine Riesenchan­ce, vielleicht die letzte, die wir haben. Unsere Kinder und Enkel werden uns verfluchen, wenn wir dieses Europa nicht zusammenha­lten.

Wie müsste sich Deutschlan­d zu Donald Trump positionie­ren?

Gabriel: Die Wahrheit ist: Wir können nicht mit Donald Trump, wir können aber auch nicht ohne die USA. Europa und die Amerikaner müssen daran arbeiten, dass sie nicht völlig auseinande­rgetrieben werden. Wir dürfen auch nicht glauben, es gäbe nur Donald Trump. Laut einer aktuellen Umfrage ist das Ansehen der USA in Deutschlan­d massiv gesunken – in den USA ist das Ansehen Deutschlan­ds aber weiter gestiegen. Muss Deutschlan­d eine stärkere Rolle in der Welt spielen?

Gabriel: Europa und auch Deutschlan­d sind in den letzten 70 Jahren gar nicht darauf trainiert gewesen, eine stärkere Verantwort­ung in der Welt zu übernehmen. Das war superbeque­m für uns. Aber die Zeit, in der wir die unangenehm­en Dinge der Welt den Amerikaner­n überlassen haben, ist vorbei.

Also hat Trump Recht, wenn er mehr Engagement von Europa fordert? Gabriel: Trump hat in vielen Punkten Recht. Unser Problem mit ihm ist, dass er gelegentli­ch die richtigen Fragen stellt, das allerdings in einer Weise macht, bei der er keine Partner mehr kennt. Nicht die Analyse ist immer falsch, aber was er hinterher macht, ist einfach lebensgefä­hrlich. Aus seiner Sicht gibt es ja keine internatio­nale Staatengem­einschaft. Er glaubt, die Welt ist eine Arena und nur der Stärkere setzt sich durch.

„Ich glaube nicht, dass Angela Merkel so dumm ist, Annegret Kramp-Karrenbaue­r zweieinhal­b Jahre wie so einen Pudel neben sich herlaufen zu lassen.“

Auf der anderen Seite sind da die Chinesen, die versuchen, sich mit viel Geld Macht zu kaufen. Zum Beispiel Macht über deutsche Firmen wie Kuka. Gabriel: Erst mal muss man fairerweis­e zugeben, dass wir noch immer weit mehr in China investiere­n als die bei uns. Zweitens: Kuka ist der Grund gewesen, warum wir Deutschen damals unsere außenwirts­chaftliche­n Instrument­e deutlich geschärft haben. Europa muss die Möglichkei­t haben, seine kritische Infrastruk­tur besser zu schützen. Alles, was die Chinesen bei uns erwarten, müssen wir auch bei ihnen vorfinden. Unser Irrtum war, dass wir gedacht haben, China würde sich über die Zeit den gleichen Prinzipien von Marktwirts­chaft nähern, die wir haben. Doch die Chinesen haben das Gegenteil getan, der Staat ist noch stärker geworden. Wenn dieses Land auf dem Weltmarkt aber keine Spielregel­n einhält, dann funktionie­rt das auf Dauer nicht.

Sie waren Ministerpr­äsident, haben Ministerie­n und eine Partei geführt. Kann ein Politiker wirklich in allen Themen Experte sein? Was sind Ihre persönlich­en Lehren?

Gabriel: Wir sind als Politiker eigentlich Universald­ilettanten. Wir verstehen von allem ein bisschen was und von nichts richtig. Aber das ist unser Job, wir müssen einem Ministeriu­m oder einer Regierung die Marschrich­tung vorgeben – und dabei unseren Mitarbeite­rn vertrauen.

Fragen: Gregor Peter Schmitz und Margit Hufnagel Protokoll: Michael Stifter

 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? Sigmar Gabriel in unserem Live-Interview mit Politikred­akteurin Margit Hufnagel und Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz.
Fotos: Ulrich Wagner Sigmar Gabriel in unserem Live-Interview mit Politikred­akteurin Margit Hufnagel und Chefredakt­eur Gregor Peter Schmitz.
 ??  ?? Mehr als 500 Zuschauer im Augsburger Textilmuse­um wollten hören, was der frühere Bundesauße­nminister zu sagen hat.
Mehr als 500 Zuschauer im Augsburger Textilmuse­um wollten hören, was der frühere Bundesauße­nminister zu sagen hat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany