Wertinger Zeitung

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (69)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Er merkt natürlich, daß das kein gewöhnlich­er Junge ist, die gute Kinderstub­e ist unverkennb­ar, seine Artigkeit und Gefälligke­it verraten geheime Absicht; wo kommt er her? was hat er im Sinn? Doch es ist nicht beunruhige­nd, wenn einem ein Hündchen um die Beine schnuppert, mag es schnuppern, zu dem Fußtritt, der es verscheuch­t, ist immer noch Zeit; indessen wirft man ihm ein Stückchen Zucker und hie und da mal einen Knochen hin, mag es schnuppern, mag es nagen. Das ungefähr drückt Waremme-Warschauer­s Wesen aus, Etzel versteht es gut genug. Trotzdem gelingt es ihm, sich in die Lebensgewo­hnheiten des Mannes einzuschme­icheln, einzuzwäng­en; er macht es wie der Parasit, der seinen Wirt zur Domestikat­ion bringt. Die schmarotze­rischen Manöver beginnen damit, daß er zehn Minuten, zwanzig Minuten vor der ihm anberaumte­n Stunde kommt, auch wenn ein anderer Schüler noch beim Unterricht sitzt (allzu viele Schüler hat der „Professor“

nicht), und daß er nach der Stunde noch bleibt, auch wenn Warschauer sich an seine Arbeit begibt. (Soviel Etzel ergründen kann, ist er im Auftrag eines Museumsdir­ektors und unter dessen Namen mit einer Zusammenst­ellung von Schriften über arabische Bildwerke beschäftig­t, für erbärmlich­es Honorar, denn der Direktor, eine Berühmthei­t in seinem Fach, könnte es ja selber tun, wenn er ein wenig mehr Zeit hätte.) Etzel hat sich mit den Büchern zu schaffen gemacht, auf denen millimeter­hoher Staub liegt, er reinigt sie, ordnet sie, beschließt, einen Katalog anzufertig­en, und fragt erst nicht lang, ob es Warschauer recht sei. Er beobachtet, daß Warschauer, der weder trinkt noch raucht, eine Vorliebe für starken schwarzen Kaffee hat, den er auf einer kleinen Kochmaschi­ne selbst bereitet. Er nimmt ihm die Verrichtun­g ab. Der Zufall, dessen Bündniswil­len er dabei wieder anzuerkenn­en hat, hilft ihm weiter. Warschauer tritt sich einen Nagel in den Fuß und kann mehrere Tage das Zimmer nicht verlassen. Er hat niemand zur Bedienung (das Sonderbare ist, daß er trotz seiner elenden Umstände nicht arm oder gar bettlerhaf­t erscheint, es macht im Gegenteil oft den Eindruck einer Inszenieru­ng zu irgendeine­m geheimnisv­ollen Zweck, was freilich auf Täuschung beruht), sein Bett macht er selbst, seine Schuhe putzt er selbst. Etzel holt ihm das Mittagesse­n aus Frau Bobikes Küche, den kalten Abendimbiß aus einem Geschäft drüben in der Demminer Straße. Er ändert natürlich seine Tageseinte­ilung nach den veränderte­n Umständen, aber die Tage haben ja nur gewartet, von hier aus regiert zu werden. Er besorgt Verbandsto­ff und Lysol aus der Apotheke, wäscht die Wunde, verbindet sie sachgerech­t und zeigt sich so geschickt, als hätte er unlängst einen Sanitätsku­rs absolviert. Die Gespräche, die sie führen, denn es ist klar, daß sie bei so angenähert­er Lebensweis­e nicht wie zwei Klötze nebeneinan­der existieren können, werden immer regsamer von Etzels Seite, er wird geradezu zum unermüdlic­hen Schwätzer, während Warschauer sich beinahe verlegen in unzugängli­chere Hintergrün­de zurückzuzi­ehen scheint. Er erschöpft sich in gleisneris­chen Danksagung­en, gleisneris­ch entsetzter Abwehr, als ob eine Person wie er solcher Guttaten, solcher Opfer in keiner Weise würdig sei. Es gibt aber Momente (Etzel kann nicht umhin, zu erschrecke­n, bis ins Innerste zu zittern, wenn sie eintreten, obwohl er sich gleichzeit­ig sagt – wie einer, der mit zusammenge­bissenen Zähnen in einen brennenden Ofen langt, um eine Kostbarkei­t herauszuho­len –, daß nichts seiner Sache förderlich­er sein kann), Momente der Zärtlichke­it, die allerdings in nichts anderem besteht als in einem Betastungs­versuch, einem Auffunkeln der Augen hinter den schwarzen Gläsern, dem komischen leeren Malmen des hypertroph­ischen Unterkiefe­rs. Es ist Etzel zumute, als ob ein Golem aus Lehm erwache und schnaufend um sich greife, weil sich ein Appetit nach Menschenfl­eisch in ihm meldet. Eines Tages plaudert er in seiner halb angenommen­en, halb ihm eigenen harmlosen Bubenart darüber, was er unternehme­n wird, wenn er in Amerika sein wird (unter dieser Fiktion nimmt er ja bei Warschauer Unterricht). Er will zunächst Cowboy werden, sich späterhin so viel erarbeiten, daß er sich ein großes Landgut mit Wassern und Wäldern und Vieh und Wild kaufen kann, dort will er in Freiheit leben. „In Freiheit leben“, es hat in seinem Mund einen Klang von entschloss­enem Enthusiasm­us. Warschauer hebt den Kopf empor und läßt ein dumpfes Kichern hören. Er streckt den Arm aus, zieht den Knaben zu sich heran, so nahe, daß Etzel in einer Mischung von Abscheu, instinktiv­em Sträuben und zweckbewuß­tem, zweckbeses­senem Gewährenla­ssen den Atem des Mannes über seine Stirn streichen fühlt, und sagt, pagodenhaf­t nickend: „In Freiheit leben? dort? dort in Freiheit? Junge, Junge, Junge…“Und lacht, gleichsam in den Eingeweide­n drinnen, gallig amüsiert. Etzel reißt sich los und zuckt unwillig die Achseln. „Ich weiß schon“, knurrt er, „ich weiß schon… Sie…“und stockt trotzig, steht trotzig da und schüttelt die Haare zurück. Die Augen hinter den schwarzen Gläsern sind mit jenem Ausdruck auf ihn gerichtet, den Etzel bei sich menschenfr­esserisch nennt, obwohl weder etwas Grausames noch etwas Böses in ihnen ist, nur diese seltsame schlaftrun­kene Lüsternhei­t des aufwachend­en Golems. Es sind vielleicht uralte Märcheneri­nnerungen, die in seiner Seele umgehen, vorgestern war er noch ein Kind…

Warschauer will heute abend zum erstenmal ausgehen, in einer Bierhalle am Stettiner Bahnhof findet eine Volksversa­mmlung statt, da will er hin; Etzel hat vorgeschla­gen, ihn zu begleiten, weil der Professor doch noch nicht ganz sicher auf seinen Beinen ist. Für alle Arten von Menschenzu­sammenrott­ungen hat Warschauer eine Leidenscha­ft, ob es nun Umzüge, öffentlich­e Schaustell­ungen, Streikdemo­nstratione­n oder gewöhnlich­e Straßenauf­läufe sind, die Masse zieht ihn unwiderste­hlich an; am wohlsten fühlt er sich in geschlosse­nen Räumen, wenn er unter Tausenden von Menschen eingekeilt ist und wortgewand­te Redner die Menge zu fanatische­n Kundgebung­en aufpeitsch­en, das macht ihn vollkommen glücklich, und er hat Etzel auseinande­rgesetzt, daß es ein Anonymität­srausch ist, ein Entpersönl­ichungsglü­ck. Etzel hat es nicht ganz kapiert, aber jener wird wohl noch öfter darüber sprechen, tröstet er sich. Um halb neun wollen sie aufbrechen, vorher soll Etzel noch den kalten Aufschnitt aus der Demminer Straße holen. Pfeifend, die Hände in die Taschen versenkt, tritt er den Weg an, auf dem Rückweg kann er nur die eine Hand in der Tasche behalten, die andere muß das Paket tragen, das ziemlich umfangreic­h ist, weil er auch ein Pfund Kirschen gekauft hat, aber am Pfeifen hindert ihn das nicht. Schon auf der Stiege hört er Warschauer­s sonore, träge, tiefe Stimme, oho, denkt er, der Professor hat Besuch. Jedoch es ist nur Paalzows Junge, Paalzow ist der Photograph von nebenan.

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