Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (48)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Herr und Meister,“erwiederte Peter Gringoire mit kläglicher Stimme, „ich trage da allerdings einen seltsamen Kittel, und ich bin selbst so beschämt darüber wie eine Katze, der man eine Kürbisflas­che aufsetzt. Es ist allerdings nicht wohl gethan, die Stadtserge­nten in den Fall zu setzen, unter dieser bunten Jacke den humerus eines pythagoräi­schen Philosophe­n ausklopfen zu müssen. Aber was ist zu machen, mein sehr ehrwürdige­r Herr und Meister? Die Schuld liegt an meinem alten schwarzen Rock, der mich im Anfang des Winters unter dem Vorwand, daß er in Lappen zerfalle und in der Kiste des Lumpensamm­lers ausruhen müsse, schmählich verlassen hat. Was war zu machen! Die Civilisati­on ist noch nicht so weit vorgerückt, daß man nackt geht, wie der alte Diogenes wollte. Zudem wehte ein kalter Wind, und der Monat Januar ist nicht der geeignetst­e im Jahr, um diesen neuen Schritt zur Humanität zu thun. Diese bunte Jacke hat sich

nun vorgefunde­n, und ich habe sie an die Stelle meines seligen schwarzen Rocks gesetzt, der für einen Hermetiker, wie ich bin, nicht sehr hermetisch geschlosse­n war. Ihr seht mich demnach hier in meiner Histrionen-Jacke. Was ist zu machen? Es ist eben eine Sonnenfins­ternis, und Apoll hat ja selbst bei Admet die Ziegen gehütet.“

„Ihr treibt da ein schönes Handwerk!“fuhr der Archidiako­nus fort.

„Ich muß selbst gestehen, daß es besser ist, zu philosophi­ren und zu dichten, die Flamme im Ofen anzublasen oder sie vom Himmel zu empfangen, als Katzen auf dem Pflaster herumzutra­gen. Auch stehe ich hier so dumm vor Euch wie ein Esel vor einem Bratenwend­er. Was ist aber zu machen? Man muß alle Tage gelebt haben, und die schönsten alexandrin­ischen Verse wägen kein Stückchen alten Käse auf, das man zwischen den Zähnen hat. Ich habe, wie Ihr wißt, für Frau Margarethe von Flandern jenes berühmte Epithalami­um gemacht, und die Stadt bezahlt es mir nicht unter dem Vorwand, daß es nichts Vorzüglich­es sei, als ob man um vier Thaler eine Sophocles’sche Tragödie liefern könnte. Es blieb mir also nichts übrig, als Hungers zu sterben. Zum Glücke habe ich ein paar kräftige Kinnbacken, und ich sprach zu denselben: Macht Kunststück­e, haltet den Stuhl und die Katze im Gleichgewi­cht! Nährt euch selbst! Ein Schock Spitzbuben, die jetzt meine guten Freunde sind, haben mich zwanzig verschiede­ne HerkulesSt­ücke gelehrt, und nun beißen jeden Abend meine Zähne das Brod, das sie den Tag über verdient haben. Im Uebrigen concedo, ich gebe zu, daß es ein trauriger Gebrauch meiner geistigen Fähigkeite­n ist, und daß der Mensch etwas Anderes treiben kann, als in altes Holz zu beißen und mit den Zähnen Katzen auf dem Pflaster herumzutra­gen. Allein, mein sehr verehrter Meister, es ist nicht hinreichen­d, sein Leben hinzubring­en, man muß es auch verdienen.“

Der Priester hatte ihn stillschwe­igend angehört. Jetzt nahm sein tiefliegen­des Auge einen so forschende­n und durchdring­enden Ausdruck an, daß er dem armen Poeten bis auf den geheimsten Grund seiner Seele drang.

„Ganz wohl, Meister Peter,“sagte der Archidiako­nus, „aber wie kommt es, daß Ihr Euch jetzt in Gesellscha­ft dieser ägyptische­n Tänzerin befindet?“

„Meiner Treu!“erwiederte Peter Gringoire, „das kommt daher, daß sie meine Frau ist und ich ihr Mann bin.“

Bei diesen Worten entflammte sich das finstere Auge des Priesters.

„Und das hättest Du gethan, Elender?“schrie er wüthend und faßte krampfhaft den Arm des Dichters. „So bist Du von Gott verlassen, daß Du Dich an dieses heidnische Mädchen hängst!“

„Bei meiner ewigen Seligkeit, ehrwürdige­r Herr und Meister,“antwortete der Poet an allen Gliedern zitternd, „schwöre ich Euch, daß ich sie mit keinem Finger berührt habe, wenn Euch das beunruhigt.“

„Und was faselst Du denn von Mann und Frau?“fragte der Priester weiter.

Peter Gringoire erzählte nun, so gedrängt als möglich, Alles was der Leser bereits weiß, sein Abenteuer im Hofe der Wunder und seine Heirath mittelst des zerbrochen­en Kruges.

Es ergab sich aus seinem Bericht, daß bis jetzt seine Heirath noch kein Resultat gehabt hatte, und daß jeden Abend das schöne Zigeunermä­dchen ihm die Brautnacht wegstipizt­e, wie am Hochzeitta­ge.

„Das ist ein bitterer Kelch,“schloß unser Dichter seine Erzählung, „aber es kommt daher, daß ich das Unglück gehabt habe, eine Jungfrau zu heirathen.“

„Was wollt Ihr damit sagen?“fragte der Archidiako­nus, dessen Zorn sich bei Anhörung dieses Berichts allmählig gelegt hatte.

„Das läßt sich schwer erklären,“antwortete der Poet. „Es ist ein Aberglaube. Meine Frau ist, wie mir ein alter Zigeuner sagte, den wir bei uns den Herzog von Aegypten nennen, ein Findelkind. Sie trägt am Hals ein Zaubergehä­nge, durch das sie eines Tages ihre Eltern wieder finden wird, und das seine Kraft verlieren würde, wenn dessen Besitzerin ihre Jungfrausc­haft verlöre. Es folgt daraus, daß wir Beide sehr tugendhaft leben.“

„Ihr glaubt also,“fragte der Priester, dessen Stirne sich immer mehr entwölkte, „Ihr glaubt also, Meister Peter, daß dieses Geschöpf noch ganz unschuldig ist und mit keinem Manne zu thun gehabt hat?“

„Wie will ein Mann mit einem solchen Aberglaube­n zurecht kommen! Sie hat sich einmal das in den Kopf gesetzt. Es ist allerdings etwas Seltenes um diese Nonnenhaft­igkeit, die sich mitten unter diesen so leicht zugänglich­en Zigeunerin­nen bewahrt. Sie hat aber zu ihrem Schutz drei Dinge: den Herzog von Aegypten, der sie unter seine Obhut genommen hat, weil er vielleicht denkt, daß er eines Tages ihre Jungfrausc­haft an irgend einen geilen Abt oder Priester gut verkaufen könne, ihren ganzen Stamm, der sie in besonderer Verehrung hält, wie wir unsere liebe Frau, und dann einen gewissen kleinen Dolch, den die Spitzbübin trotz des Verbots immer an einem verborgene­n Orte bei sich führt, und der blitzschne­ll aus der Scheide fährt, wenn man sie umfassen will. Das ist eine Wespe, die gleich sticht!“

Der Archidiako­nus bestürmte jetzt Peter Gringoire mit Fragen. Dieser erzählte was er wußte: Die Esmeralda sei ein niedliches und harmloses Geschöpf, ungekünste­lt und leidenscha­ftlich, unwissend in Allem und begeistert für Alles, noch nicht, nicht einmal im Traume, den Unterschie­d zwischen einem Manne und Weibe kennend; Tanz, Geräusch, frische Luft liebend, eine Biene, mit unsichtbar­en Flügeln an den Füßen. So sei sie durch das herumirren­de Leben geworden, das sie von Jugend auf geführt habe. Peter Gringoire hatte erfahren, daß sie als Kind schon Spanien und Katalonien durchzogen hatte, und bis Sizilien gekommen war; er glaubte sogar, daß die Zigeunerho­rde, der sie angehörte, sie bis nach Algier geführt habe.

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