Wertinger Zeitung

Wir müssen uns erinnern – immer wieder!

80 Jahre nach dem Überfall auf Polen scheint der Gedanke an Krieg sehr weit weg. Doch so stabil und sicher, wie wir denken, sind unsere Demokratie­n keineswegs

- gps@augsburger-allgemeine.de VON GREGOR PETER SCHMITZ

Dieser Leitartike­l muss mit einem Geständnis beginnen. Wir hätten den Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriege­s um ein Haar vergessen. Gerade noch rechtzeiti­g erinnerte ein Mitglied unserer Chefredakt­ion daran, dass das 80. Gedenken unmittelba­r bevorstand. Man kann dieses Versäumnis peinlich finden (und das ist es uns auch). Man kann es aber auch ziemlich beruhigend finden – zeigt sich doch daran, dass Gedanken an Krieg, gar an Weltkriege gerade ziemlich weit weg sind.

Und es stimmt ja: Wir leben in Deutschlan­d, in Europa in herrlich friedliche­n Zeiten (für andere Teile der Welt, daran sei erinnert, gilt dies freilich nur sehr eingeschrä­nkt). Jener Weltenkrie­g, der buchstäbli­ch alles änderte, der rund 60 Millionen Menschen das Leben kostete, war so ungeheuerl­ich, so

brutal, so total auch in der Niederlage für uns Deutsche, dass er ausgelöst hat, was geschichtl­iche Fehler zuvor selten auslösten: Einsicht. Für uns Deutsche natürlich, die wir froh genug sein durften, nach unseren ungeheuerl­ichen Verbrechen überhaupt – und dann noch so schnell – wieder in die Gemeinscha­ft zivilisier­ter Völker aufgenomme­n zu werden. Aber auch für die Europäer, die ein Friedenspr­ojekt starteten, das es so in der Weltgeschi­chte noch nie gegeben hatte: das Zusammenwa­chsen eines ganzen Kontinents.

So erfolgreic­h verlief die deutsche Resozialis­ierung, dass deutsche Soldaten heute keine Angst und keinen Schrecken mehr auslösen. Im Gegenteil: Man will mehr von ihnen. Kurz vor dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen – denn damit begann ja dieses Verhängnis namens Zweiter Weltkrieg – hat der polnische Ministerpr­äsident höhere deutsche Verteidigu­ngsausgabe­n gefordert. Das hat vor einigen Jahren der polnische Außenminis­ter ähnlich formuliert, als er sagte, er fürchte nicht deutsche Macht, sondern deutsche Untätigkei­t. Er wollte, dass Deutschlan­d in Europa mehr führt.

Aber kann deshalb auch die Erinnerung an deutsche (Kriegs-)Verbrechen und zugleich an stete Kriegsgefa­hr aufhören? Ganz gewiss nicht. Denn es gibt ja Gründe, warum etwa das Buch „Sleepwalke­rs“über jene Politiker, die wie Schlafwand­ler in den Ersten Weltkrieg torkelten, zuletzt häufig als Vergleich für die aktuelle politische Situation herangezog­en wurde. Auch derzeit haben viele Menschen das Gefühl, dass Politik keine Lösungen schafft, sondern eher Probleme heraufbesc­hwört. Die Leichtfert­igkeit ist beängstige­nd, mit der etwa ganze „Handelskri­ege“per Tweet angezettel­t werden oder potenziell­e politische Katastroph­en wie ein harter Brexit für Machtspiel­e in Kauf genommen werden.

Zugleich ist besorgnise­rregend, wie sehr gerade in Deutschlan­d ernsthafte Debatten über Außenund Sicherheit­spolitik an Bedeutung verloren haben. Wie peinlich ist es, dass ausgerechn­et ein „Vordenker“wie Donald Trump Versäumnis­se der deutschen Sicherheit­spolitik ansprechen muss? Sind wir uns unseres Friedens einfach zu sicher, weil wir diese Debatten eben nicht führen?

Es stimmt ja: Demokratie­n erklären sich höchst selten den Krieg. Aber wir erleben zumindest in Teilen der Welt einen Krieg gegen die Demokratie – ein Krieg von innen, gegen demokratis­che Institutio­nen und Prozesse. Das kann, gepaart mit autokratis­chen und nationalis­tischen Tendenzen, in vielen Hauptstädt­en durchaus zu einer neuen Unberechen­barkeit, zu einer neuen Kriegslust führen. Wir müssen wachsam bleiben – und wir müssen wehrhaft bleiben, wenn es um die Verteidigu­ng eben dieser Demokratie geht. Wie lautet das Sprichwort? „Wer sich nicht an die Vergangenh­eit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederhole­n.“

Wir erleben einen Krieg gegen die Demokratie

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