Von kleinen Helden und großen Wünschen
Schicksal Jerome, 9, leidet an einem unheilbaren Gendefekt. Seine Mutter weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie versucht alles, um ihn glücklich zu machen. Über einen aufregenden Tag im Legoland und Momente, in denen die Mutter die Fassung verlie
Günzburg Jerome sammelt Helden. Von den Regalen seines Kinderzimmers schauen Superman, Spiderman und Co auf ihn herab. Der Neunjährige liebt die Fantasiefiguren mit ihren ungebrochenen Kräften und ihrem Mut. Tapfer ist der Junge aus Augsburg selbst. Aber seine Kraft schwindet unaufhaltsam. Jerome leidet an einer unheilbaren Erkrankung der Nervenzellen, die alle Muskeln beeinträchtigt. Eine Maschine beatmet ihn rund um die Uhr. Jerome wird über eine Magensonde ernährt. Tanja Schießl weiß, dass ihr Sohn jeden Tag sterben kann. Bei so einem Schicksal gewichtet man die gemeinsame Zeit anders. Deshalb freut sich die alleinerziehende Mutter an diesem Tag selbst wie ein Kind. Sie hat eine große Überraschung für ihren Sohn.
Aufgeregt wirbelt Tanja Schießl am frühen Morgen durch die Mietwohnung. Die zierliche 31-Jährige packt die Notfalltasche zusammen. Den Plan dafür hat sie im Kopf. Medikamente, Windeln, Behindertenausweis, externer Akku für die Beatmungsmaschine und vieles mehr – ein Ausflug mit Jerome bedeutet für Schießl viel Aufwand.
Alle paar Minuten schaut sie ins Kinderzimmer. Der Bub liegt mit offenen Augen im Bett. Die Beatmungsmaschine gibt ein rhythmisches Geräusch von sich. Ein Monitor zeigt Jeromes Puls und die Sauerstoffsättigung an. „Eine kleine Intensivstation“nennt Tanja Schießl die Wohnung. „Spatzi, du bekommst jetzt noch dein Morphium. Und dann machen wir heute einen Ausflug“, verkündet sie lachend. Schießl ist ein fröhlicher Mensch. „Mama, werde erwachsen“, sagt Jerome dann gerne, wenn sie so aufgedreht ist. „Wohin?“, will er jetzt wissen. Seine Stimme ist leise. Er hat wenig Kraft, um zu sprechen.
„Eis essen in die Innenstadt“, gaukelt ihm die Mutter vor und lacht wieder. Noch will sie nicht verraten, dass sie an diesem Tag das Legoland in Günzburg besuchen. Alleine könnte Tanja Schießl so eine Unternehmung nicht stemmen. Nachbarin und Freundin Christine Danzer hat es eingefädelt, dass Mutter und Sohn vom Wünschewagen Allgäu/Schwaben des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) abgeholt werden. Sie wollte den beiden eine Freude bereiten.
Mit diesem speziell umgebauten Krankentransporter wird todkranken Menschen ein letzter Wunsch erfüllt. Für das Team des ASB bedeutet diese Fahrt eine große Herausforderung, wie Projektkoordinatorin Sonja Hujo wenig später erzählt. Sie und die beiden ehrenamtlichen „Wunscherfüller“Paul Lamatsch und Tilmann Lassernig sind von Kaufbeuren aus aufgebrochen und warten nun vor dem Mehrfamiim Augsburger Stadtteil Haunstetten. Seit Tagen schon steht die ausgebildete Krankenschwester und Rettungsassistentin Hujo mit Tanja Schießl in Kontakt, um den Legoland-Besuch vorzubereiten. Dinge wie das Bedienen des Beatmungsgerätes, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des Hausarztes oder die Patientenverfügung mussten die Frauen miteinander klären. Auch, was im Notfall passiert.
„Sollte es zu einer lebensbedrohlichen Situation kommen, würden wir Jerome nicht wiederbeleben. Die Mutter will das so“, erklärt Sonja Hujo. Der Tod sei bei den Fahrten mit dem Wünschewagen immer mit dabei, meint die Frau mit der ruhigen, freundlichen Stimme. Sie fügt hinzu: „Aber in erster Linie ist der Wünschewagen mit viel Freude verbunden.“
Jerome freut sich vor allem über eines, als er auf der Trage im Fahrzeug liegt: dass in der Decke des Fahrzeugs ein Bildschirm eingebaut ist, auf dem man Filme schauen kann. Sonja Hujo hat für den Jungen extra eine Ninjago-DVD besorgt, damit ihm während der Fahrt nach Günzburg nicht langweilig wird. Jerome liebt diese Animationsstreifen. In solchen Momenten vergisst er fast die Schmerzen, unter denen er leidet. Wie seine Mutter erzählt, müssen diese „höllisch“sein.
22 Jahre alt war Tanja Schießl, als Jerome auf die Welt kam. Bald stand fest, dass der Bub an der seltenen „Spinalen Muskelatrophie“(SMA) erkrankt war. Ursache für die Nervenerkrankung ist die Veränderung eines Gens. Jerome leidet an Typ 1, der schwersten Form der SMA. Sie bringt einige weitere Leiden wie Osteoporose und eine Verkrümmung der Wirbelsäule mit sich. Jerome darf nie krank werden. Eine Lungenentzündung wäre tödlich. Die Lebenserwartung bei SMA Typ 1 beträgt nur wenige Jahre. Nicht alle Betroffenen erreichen Jeromes Alter. „Jerome heißt der heilige, tapfere Krieger“, erklärt die Mutter. „Als wir ihm den Namen gaben, wussten wir noch nichts von der Krankheit.“
Der Bub konnte nie sitzen, stehen oder gar laufen. Dennoch besucht er jeden Tag die Schule. Ein Krankenes transport holt Jerome ab und bringt ihn in das Fritz-Felsenstein-Haus nach Königsbrunn, ein Kompetenzzentrum für behinderte Menschen. Es ist die einzige Zeit, in der Tanja Schießl einkaufen oder die Wohnung sauber machen kann. Staubsaugen etwa wäre im Beisein von Jerome nicht möglich. „Ich würde ihn nicht hören, wenn ausgerechnet da etwas wäre.“Schießl fragt manchmal auch Nachbarn, ob sie sich kurz zu Jerome setzen können.
Die Augsburgerin hat keine Zeit für einen Job. Sie betreut ihr todkrankes Kind, Vollzeit, sieben Tage die Woche. Dabei erhält die alleinerziehende Mutter Unterstützung von einem Pflegedienst. Dieser übernimmt Nachtschichten, so gut geht. Doch Pflegekräfte sind knapp. Oft muss Schießl selbst für Jerome nachts wach bleiben. Die Mutter lebt von Hartz IV, aber sie lebt für ihr Kind. Dabei hat sie selbst den meisten Respekt vor ihrem eigenen Sohn.
„Von so einem Kind, wie Jerome es ist, kann man nur lernen. Er hat so viel Lebensfreude und Kampfgeist. Selbst wenn er wütend ist, bleibt er höflich. Er ist mein wahrer Superheld.“Der kleine Superheld bekommt plötzlich rote Backen.
Über Jeromes Gesicht breitet sich ein seliges Lächeln aus. Durch das große Panoramafenster hat er gerade einen Blick auf die LegolandFahnen am Eingang des Freizeitparks erhascht. „Wir gehen ins Legoland“, flüstert er glücklich. Seine Mutter nimmt ihn in den Arm, küsst ihn auf die Wangen. Tanja Schießls größtes Anliegen ist es, dass ihr Sohn jeden Tag genießt, so gut es eben geht. Als auch noch eine überdimensionale Legofigur zu Jerome ins Fahrzeug steigt und ihn willkommen heißt, strahlen das Kind und seine Mutter um die Wette. Sonja Hujo und ihre Kollegen, die mit dem Wünschewagen schon viel erlebt haben, wirken ergriffen. So also sieht die besagte Freude aus, die im Wünschewagen dem Tod die lange Nase zeigt. Mehr Glück und Wärme sind kaum möglich. Einfrieren möchte man diesen wertvollen Moment, für das Kind und für die Mutter. Doch es wird hektisch.
Es sind Sommerferien und im Lelienhaus goland wimmelt es vor Familien mit Kindern. Helfer und Mutter müssen aufpassen, als sie Jerome durch die Menge schieben. Niemand soll ihn anrempeln. Seine Knochen haben laut Schießl nur noch eine Dichte von sechs Millimetern. Der Junge ist zerbrechlich.
Jerome wird langsam durch das Miniland gerollt, damit er die vielen Bauten aus tausenden Legosteinen bewundern kann. Die Mitarbeiter des Legolands kümmern sich rührend um den besonderen Gast. An einem Stand bekommt er einen riesigen Plüschhund geschenkt, an einer weiteren Attraktion ein Brettspiel. Angestellte, die in NinjagoKostüme geschlüpft sind, lassen sich mit ihm fotografieren. Jerome hat Tränen in den Augen. Es ist ein aufregender Tag, doch zwischendurch ist seine leise Stimme zu hören: „Ich will bitte nach Hause.“
Es sind die vielen Menschen und auch der permanente Lärmpegel, der dem Neunjährigen irgendwann zu viel wird. Und die vielen Blicke, die sich auf ihn richten. Ein Bub auf einer Trage mit Beatmungsgerät ist ein ungewohnter Anblick. Kinder sind zu hören, wie sie ihre Eltern
Der Bub konnte nie sitzen, stehen oder gar laufen
Er bekommt einen riesigen Plüschhund geschenkt
fragen: „Was ist mit dem Jungen?“Fast alle machen Platz. „Ich bekomme Gänsehaut“, meint eine Besucherin berührt.
Tanja Schießl sagt, Jerome und sie seien Blicke gewohnt. Zwei Mal jedoch verliert die Mutter an dem Nachmittag die Fassung. „Haben Sie jetzt alles gesehen?“, geht sie eine Frau an. Diese hatte ein paar Minuten lang Jerome ungeniert angestarrt. Die Frau entschuldigt sich und geht weiter. Dann fragt eine weitere Besucherin entgeistert: „Was ist das denn?“Jeromes Begleiter halten die Luft an.
Tanja Schießls Ton wird hart. „Das ist ein Kind.“Die 31-Jährige lässt sich nichts gefallen – erst recht nicht, wenn es um ihren Jungen geht. Dafür hat Tanja Schießl zu viel durchgemacht. Schon in ihrer Kindheit lernte sie zu kämpfen. Was ihr widerfahren war, darüber will sie nicht reden. Nur, dass sie das, was sie erleben musste, letztendlich stark gemacht habe. Vielleicht kann sie auch deshalb so stark für ihren Sohn sein.
„Jerome und ich sind eine Seele in zwei Körpern“, sagt sie. Schießl weiß, dass ihr Sohn große Angst vor dem Sterben hat. Er sorgt sich, was dann aus der Mama wird. „Ich erkläre ihm, dass es nach dem Tod schön wird, dass dort das Paradies ist.“Tanja Schießl hat für den Tag X, wie sie ihn nennt, alles vorbereitet – „mit einer liebevollen Bestattung“. Sie fragt die Ärzte nicht mehr nach einer Prognose. Sie würde sich nur verrückt machen. „Ich weiß, dass er eines Tages geht. Wann, das entscheidet Jerome.“Helden würden sich in so etwas wahrscheinlich auch nicht reinreden lassen.