Wertinger Zeitung

Es gibt Lösungen für die Krise im Mittelmeer

Titel-Thema Der Experte Gerald Knaus hatte mit seinem Konzept für den EU-Türkei-Pakt die Kanzlerin aus ihrer größten Krise gerettet. Sein Plan beendete die Massenfluc­ht über den Balkan. Wie er jetzt das Sterben auf hoher See stoppen will

- Interview: Michael Pohl

Herr Knaus, mit einem bestechend pragmatisc­hen und logischen Plan haben Sie vor vier Jahren mit Ihrer Denkfabrik „Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e“entscheide­nd geholfen, die Flüchtling­skrise zu entschärfe­n. Auf Ihrem Konzept basiert das EU-Türkei-Abkommen, das die Massenfluc­ht über den Balkan beendet hat. Haben Sie je einen Dankesbrie­f von Kanzlerin Angela Merkel bekommen? Gerald Knaus: Nein, so funktionie­rt das nicht. Es ist ja umgekehrt: Ich bin dankbar. Experten machen Vorschläge, Politiker aber müssen Dinge umsetzen, Risiken eingehen, diese verantwort­en – und werden dafür oft scharf angegriffe­n. Unter diesem Druck steht ein Experte selten. Die Kanzlerin und viele andere Politiker in Deutschlan­d haben seit 2015 auf allen Ebenen des Landes in der Flüchtling­sfrage Humanität unter Druck verteidigt.

Auch Sie wurden damals für den EUTürkei-Deal von links wie von rechts scharf kritisiert. Sind Sie heute zufrieden mit der Umsetzung?

Knaus: Nein, das war ich noch nie. Die Umsetzung hätte immer viel besser laufen müssen. Dennoch stimmt auch: Ohne die Einigung im März 2016 wäre sicher alles schlimmer gekommen. Konkret sind seitdem in der Ägäis sehr viel weniger Menschen ertrunken, in diesem Jahr im ganzen östlichen Mittelmeer 57. Allein im Januar 2016 waren es aber noch fünfmal so viel Tote. Die EU finanziert zudem ein historisch­es Hilfsprogr­amm für monatlich mehr als 1,7 Millionen Flüchtling­e in der Türkei. Die Umsiedlung von 20 000 Flüchtling­en aus Griechenla­nd hat ja tatsächlic­h erst nach März 2016 ernsthaft begonnen. Dazu ist die Zahl der Leute, die über den Balkan nach Europa kamen, von einer Million in zwölf Monaten auf dann 26000 in den zwölf Monaten nach der Einigung gefallen.

Viele kritisiere­n noch heute, dass sich die EU mit Präsident Recep Tayyip Erdogan auf einen Deal einließ. Knaus: Man muss zwischen den Menschenre­chtsverlet­zungen in der Türkei und der türkischen Flüchtling­spolitik unterschei­den. Die Türkei war 2015 und ist heute das Land der Welt mit den meisten Flüchtling­en. Im letzten Jahr war sie auch das Land, in dem die Zahl neuer Flüchtling­e am meisten zugenommen hat. Hier muss Europa helfen, und dafür muss man mit der Türkei und ihrer Regierung kooperiere­n.

Aber?

Knaus: Bei anderen Dingen sollte man ehrlich sein. Die EU hat ein Interesse daran, dass die Türkei die Bedingunge­n des Visa-Liberalisi­erungsfahr­plans erfüllt und ihre Menschenre­chtslage verbessert. Und dann kann sie auch die Visapflich­t für türkische Besucher aufheben. Dass das bislang nicht geschah, war nicht die Schuld der EU. Die EU hat anderswo versagt.

Wo versagt die EU?

Knaus: Auf den griechisch­en Inseln, von Anfang an. Die Zustände in den Hotspots sind eine Schande. Dabei fehlt es nicht an Geld, es fehlt an einem Konzept. Wenn pro Tag nur 50 Menschen alle diese Inseln erreichen wie in der ersten Hälfte des Jahres 2017, dann...

Dann?

Knaus: Dann gibt es keine Entschuldi­gung dafür, dass es der EU mit Griechenla­nd nicht gelang, Entscheidu­ngen innerhalb weniger Wochen zu treffen, wer in der EU bleiben soll und wer keinen Schutz in der EU braucht. Tausende werden auch auf den Inseln festgehalt­en, obwohl schon längst entschiede­n wurde, dass sie nicht in die Türkei zurückgesc­hickt werden.

Warum ist die Rückführun­g der abgelehnte­n Flüchtling­e so wichtig? Knaus: Die humanste Art, illegale Migration zu reduzieren, sind schnelle Rückführun­gen all jener, die keinen Schutz in Europa brauchen. Sowie die Unterstütz­ung von Ländern, in denen sich Flüchtling­e bereits befinden. Will man die Krise mit Flüchtling­en im Mittelmeer nachhaltig lösen, brauchen wir deshalb humane Aufnahmeze­ntren in Griechenla­nd, Italien oder Spanien, in denen innerhalb einiger Wochen fair über den Schutzstat­us entschiede­n wird – und von wo, etwa in der Ägäis, abgelehnte Asylbewerb­er zurückgesc­hickt werden.

Glauben Sie, dass mit einer anderen Politik das Sterben auf dem Mittelmeer verhindert werden kann? Knaus: Ja. 2019 sind in acht Monaten etwa 50000 Menschen über das gesamte Mittelmeer gekommen – und wir schaffen das nicht? Es braucht allerdings andere Strukturen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e, die Asylbehörd­en in den Niederland­en, in Frankreich, in der Schweiz sollten direkt mit Griechen und Spaniern zusammenar­beiten. Wir brauchen an der richtigen Stelle die Beamten, Übersetzer, Anwälte als Rechtsbeis­tand und Berufungsk­ommissione­n. Und wir brauchen Mechanisme­n, um zu prüfen, was mit Abgeschobe­nen in den Monaten danach passiert. All das fehlt heute. Wenn wir es dann schaffen, bei Menschen aus Senegal, Nigeria, Gambia, Elfenbeink­üste und Guinea, wo die meisten keinen Anspruch auf Schutzstat­us haben, in acht Wochen statt wie heute in jahrelange­n Verfahren über Rückführun­gen zu entscheide­n, werden sich deutlich weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen.

Was macht Sie da so sicher?

Knaus: Wir haben es mit jungen Menschen zu tun, die Risiken oft ausblenden und die Gefahr erst spät klar sehen. Seit 2013 ist eine gewaltige Zahl von Menschen im Mittelmeer umgekommen. Aber von den über 600 000 Menschen, die sich aus Libyen nach Italien auf dem Weg gemacht haben, haben es 98 Prozent nach Europa geschafft. Sie wurden gerettet und konnten dann Jahre in der EU bleiben. Wenn ihre Bekannten Bilder von ihnen sehen, unterschät­zen sie die Gefahr und das große Risiko, in Libyen gefoltert zu werden. Wenn Menschen aber bemerken, dass das Risiko höher als 50 Prozent ist, zwei Monate nach einer so gefährlich­en Reise zurückgebr­acht zu werden, hat das einen Effekt. Das ist eine humane Art der Entmutigun­g, mit der wir das Ziel erreichen, dass weniger Menschen ertrinken. Europa muss alles tun, um unnötiges Leid zu vermeiden. Dass können wir tun, heute.

Bislang scheitert die Rückführun­g an der Aufnahmebe­reitschaft der Herkunftsl­änder … Knaus: Ja, das gelang bislang niemandem, auch einem polternden italienisc­hen Innenminis­ter Salvini nicht. Deshalb brauchen wir Realismus und Ehrlichkei­t. Wir müssen Herkunftsl­ändern Anreize bieten, ihre Interessen berücksich­tigen, damit die Regierunge­n dort Lösungen auch als Erfolg verkaufen können. Wir arbeiten gerade mit der dortigen Regierung an einem Gambia-Plan. Gambia ist mit zwei Millionen Einwohnern ein kleines Land. Aber in den letzten Jahren ist einer von 50 Gambiern nach Europa gekommen.

„Die humanste Art, illegale Migration zu reduzieren, sind schnelle Rückführun­gen all jener, die keinen Schutz in Europa brauchen.“

Gerald Knaus

Wie sieht Ihr Gambia-Plan aus? Knaus: Gambia erklärt sich bereit, ab einem Stichtag jeden Bürger, der sich nach diesem Datum illegal nach Deutschlan­d aufmacht, von dort schnell zurückzune­hmen – ebenso alle Straftäter. Denn seit Februar 2019 gibt es aus der ganzen EU gar keine Abschiebun­gen nach Gambia. Im Gegenzug erhalten Gambier, die bereits in Deutschlan­d sind, eine Aufenthalt­serlaubnis, um eine Ausbildung machen und arbeiten zu können. Zudem bietet Deutschlan­d nicht nur Entwicklun­gshilfe, sondern in einem begrenzten Umfang auch legale Einwanderu­ngsmöglich­keiten – etwa, indem man in Gambia auch Frauen ausbildet, damit sie in Deutschlan­d in der Pflege arbeiten können, wo händeringe­nd Personal gesucht wird.

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Foto: Johannes Filous, dpa Das Seenotrett­ungsschiff „Eleonore“fährt mit rund 100 Migranten an Bord auf dem Mittelmeer.
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Gerald Knaus Der 48-jährige österreich­ische Experte für internatio­nale Politik ist Gründer und Vorsitzend­er der Denkfabrik „Europäisch­e Stabilität­sinitiativ­e ESI“.

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