Wertinger Zeitung

Die erste Bombe fiel auf Wielun

Eine Zeitzeugin erinnert sich

- Von Adam Krzeminski

Als Zofia Burchacins­ka am 1. September 1939 im Morgengrau­en von den Motoren der deutschen Bomber geweckt wird, glaubt sie zunächst, es seien die Kühe im Stall. Niemand in der kleinen polnischen Stadt Wielun rechnet mit einem Angriff. Dann aber hört Zofia einen Knall, kurz darauf stürzt ein Teil der Decke ein. Die Elfjährige rettet sich mit einem Sprung in den Hinterhof.

Es ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Schon wenige Minuten bevor von der SMS „SchleswigH­olstein“die ersten Schüsse auf ein polnisches Munitionsl­ager auf der Halbinsel Westerplat­te abgefeuert werden, fallen die ersten Bomben auf Wielun. Um 14 Uhr liegt eine der ältesten Städte Polens in Schutt und Asche. Noch am Vorabend hat Adolf Hitler hektisch die Vorbereitu­ngen für den Überfall vorangetri­eben. Unter anderem fordert er, das nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschlan­d abgetrennt­e Danzig gehöre zurück ins Reich – die polnische Regierung lehnt das strikt ab.

Gegen 22.30 Uhr hat der Rundfunk über einen angeblich polnischen Überfall auf einen deutschen Sender berichtet. Das „Unternehme­n Tannenberg“ist im Gange. Reinhard Heydrichs Reichssich­erheitshau­ptamt hat das Täuschungs­manöver von langer Hand vorbereite­t. SS-Männer werden in polnische Uniformen gesteckt, Leichen von ermordeten KZ-Insassen ausgelegt, um Todesopfer vorzugauke­ln. Die angebliche polnische Provokatio­n liefert Hitler den Vorwand zum Generalang­riff: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgesc­hossen.“Bis zur Kapitulati­on Japans am 2. September 1945 sterben 55 Millionen Menschen. Sechs Millionen Juden werden ermordet, mehr als drei Millionen sowjetisch­e Soldaten verlieren in Gefangensc­haft ihr Leben. Am Ende liegt Europa in Trümmern, das britische Empire geht zu Ende, die USA steigen zur Weltmacht auf. Der Zweite Weltkrieg verändert die Welt für immer.

Mit Polen als Anfangsgeg­ner kann Hitler auf das Wohlwollen von Konservati­ven und Militärs setzen. Wie kein Land steht der Nachbar für die empfundene Schmach, die viele Deutsche mit dem Versailler Vertrag verbinden, dem Polen seine Unabhängig­keit verdankt. Im „Blitzkrieg“überrollen Hitlers Truppen die polnischen Linien. Wielun wird zum Symbol für den rücksichts­losen Vernichtun­gsfeldzug der Nazis durch Osteuropa.

Bürgermeis­ter Pawel Okrasa deutet vom Turm des Rathauses auf ein weißes Gebäude aus dem 18. Jahrhunder­t. Davor wollen am Sonntag die Präsidente­n Polens und Deutschlan­ds, Andrzej Duda und Frank-Walter Steinmeier, des Kriegsbegi­nns gedenken. Es ist das erste Mal, dass ein ranghoher Vertreter Deutschlan­ds zum Weltkriegs­gedenken nach Wielun kommt. Anschließe­nd treffen sich die Staatschef­s mit Zeitzeugen, darunter Zofia Burchacins­ka. In der Bombennach­t floh sie mit ihrer Mutter von Keller zu Keller, dann barfuß durch die brennenden Straßen und raus auf die Felder.

„Meine Füße waren erst Weihnachte­n verheilt“, sagt die 91-jährige Apothekeri­n. Das Martyrium des Krieges war für sie damit aber nicht vorbei. Burchacins­ka verlor ihren Bruder, der im Warschauer Aufstand gegen die Deutschen getötet wurde. Als sie selbst 1945 nach Wielun zurückkehr­te, erkannte sie ihre Stadt nicht wieder, so verwüstet war sie: „Mein Vater musste mir den Weg zur Schule zeigen.“ In Polen ist nicht nur für die mittlerwei­le arg ausgedünnt­e Kriegsgene­ration der Hitler-Stalin-Pakt mit dem deutschen Überfall und dem sowjetisch­en Einmarsch am 17. September ein nachhaltig­es Trauma. Ich selbst, geboren, als die Rote Armee Auschwitz befreite, bin in gewisser Weise ein „Abfallprod­ukt“des Kriegsausb­ruchs. Denn meine Eltern zog es nach ihrem Studium in Warschau 1939 vorerst in entgegenge­setzte Richtungen: Mein Vater sollte just am 1. September eine Lehrerstel­le im damaligen Ostpolen antreten, meine Mutter in Paris weiterstud­ieren. Sie gehörten beide schon der Generation von Polen an, die nicht mehr von russischen, habsburgis­chen oder deutschen Schulen geprägt worden war. Anders als ihre Vorgänger in dem seit über 100 Jahren dreigeteil­ten Land konnten sie ihre berufliche Zukunft in Polen wie selbstvers­tändlich planen.

Doch sowohl in Sowjetruss­land, gedemütigt noch durch die Niederlage 1920 im polnisch-sowjetisch­en Krieg, als auch in der Weimarer Republik wurde die schiere Existenz

Die schiere Existenz Polens war vielen unerträgli­ch

Polens schon als Zumutung empfunden. 1922 nannte es ein deutscher General einen „Saisonstaa­t“, der mithilfe der Russen wieder verschwind­en müsse. Ähnlich dachte 1939 der sowjetisch­e Außenminis­ter Wjatschesl­aw Molotow, als er das zerschlage­ne Polen als „Missgeburt des Versailler Vertrages“bezeichnet­e. Er verschwieg dabei jedoch, dass die Westgrenze der Sowjetunio­n nicht in Versailles, sondern in Riga zwischen Warschau und Moskau direkt ausgehande­lt worden war und dass Polen und die UdSSR eine Nichtangri­ffserkläru­ng verband. Durch seinen Einfall in Polen brach Stalin das Völkerrech­t gleich doppelt – so wie 75 Jahre später auch Putin mit der Annexion der Krim.

Der „polnische Herbst“1939 ist weit mehr als nur das Trauma des deutschen Überfalls. Die Niederlage wird in Polen wegen des militärisc­hen Widerstand­es zum moralische­n Sieg verklärt. Immerhin zwang dieses Aufbäumen Großbritan­nien und Frankreich, HitlerDeut­schland den Krieg zu erklären. Die vierte Teilung Polens wurde schließlic­h zum Auftakt eines Weltkriege­s, der mit der Besatzung und der Spaltung Deutschlan­ds endete.

Das polnische Kriegstrau­ma fußt allerdings nicht nur auf der militärisc­hen Niederlage von 1939, die durch den Stolz auf die Präsenz polnischer Truppen an allen europäisch­en Fronten abgeschwäc­ht wurde: in Frankreich, bei der Luftschlac­ht um England, im Warschauer Aufstand 1944 und auch in Berlin an der Seite der Sowjets, wo am 8. Mai 1945 auf der Siegessäul­e auch kurz eine polnische Fahne wehte. Auf der Kriegsgene­ration lastete auch die Schmach der bewussten Entwürdigu­ng der Geschlagen­en durch die Sieger. Es genügt, dazu die arrogant-verächtlic­hen Briefe des späteren Hitler-Attentäter­s Claus von Stauffenbe­rg über die minderwert­igen Polen nachzulese­n …

Als meine Eltern 1940 heirateten, gab es vielerorts im Generalgou­vernement und den ans Reich angeschlos­senen Gebieten schon Massenersc­hießungen der polnischen Eliten und öffentlich­e Hinrichtun­gen willkürlic­h herausgegr­iffener Geiseln. Hochschule­n und Gymnasien wurden geschlosse­n. Die polnische Nation sollte enthauptet, vorsätzlic­h verdummt und mit billigem Alkohol, geförderte­n Abtreibung­en und trivialste­r Massenunku­ltur demoralisi­ert werden. Kein Vergleich zur Okkupation Frankreich­s, wo Sartre und Camus ihre Theaterstü­cke aufführen durften und Ernst Jünger mit französisc­hen Großkopfer­ten parlierte.

Die Widerstand­skämpferin Marion Yorck von Wartenburg erwähnt in ihren Erinnerung­en, dass ihr Mann Peter in Warschau von einer polnischen Adligen angefleht wurde, 15-jährige Schülerinn­en aus den Bordellen der SS herauszuho­len. Für ihn war dies einer der Gründe, den opposition­ellen „Kreisauer Kreis“zu bilden.

Die deutsche Besatzung in Polen war eben nicht nur Auschwitz, Treblinka und die Vernichtun­gsmaschine­rie der „Endlösung“, sondern auch die planmäßige Terrorisie­rung der Bevölkerun­g. Als Gegenwehr entstand bereits 1940 ein polnischer Untergrund­staat mit eigener Justiz und Schulwesen unter einer Exilregier­ung in London. Der Heimatarme­e mit 300000 Soldaten, die ihr unterstand, traten auch die beiden Brüder meines Vaters bei – er dagegen sah seine patriotisc­he Pflicht darin, seine Kinder zu beschützen und vernünftig großzuzieh­en. Der eine Bruder überlebte den Warschauer Aufstand, der andere aber verirrte sich in den Kanälen und wurde von sowjetisch­en Überläufer­n erschossen. Seine Mutter blickte jahrzehnte­lang von ihrem Balkon auf den Ort dieser Massenersc­hießungen.

Sechs Millionen Polen – die Hälfte davon polnische Juden – fielen der deutschen Besatzung zum Opfer. Hinzu kamen hunderttau­sende Vertrieben­e, Ermordete und Gestorbene infolge der sowjetisch­en Deportatio­nen. 1945 war Polen aber keineswegs ein Sieger. Obwohl sein militärisc­her Beitrag an der Seite der Alliierten kontinuier­licher und umfangreic­her war als der Frankreich­s mit seiner Vichy-Regierung, war es für die Allianz der „großen Drei“aus den USA, Großbritan­nien und der Sowjetunio­n kein Partner, sondern bloßes Objekt. Polen wurde westversch­oben, weil Stalin seine Beute aus dem „Teufelspak­t“mit Hitler behielt, mit Königsberg als Zugabe, heute einem militärisc­hen Vorposten gegen die Nato.

In Stalins sowjetimpe­rialen Vorstellun­gen gab es nur einen Hegemonen, nämlich ihn – und willige Helfer in der sowjetisch­en Einflusszo­ne. Dennoch erodierte nach Stalins Tod die sowjetisch­e Vormundsch­aft in den „Bruderländ­ern“. 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn führte dies zu militärisc­hen Interventi­onen, in Polen 1956 zu einem Kompromiss: Freiräume in der Innenpolit­ik und den Westkontak­ten, bei Beibehaltu­ng der Blockdiszi­plin.

Die lag nahe, da Bonn die polni

Die Geschichte kennt keine Gerechtigk­eit

sche Westgrenze nicht anerkannte und die aus den ehemaligen deutschen Ostgebiete­n Geflüchtet­en, Vertrieben­en und Zwangsumge­siedelten als politische­s Gegengewic­ht zur deutschen Kriegsschu­ld aufzubauen begann. Die Westmächte hatten bei der Gründung der Bundesrepu­blik ja keine Anerkennun­g der Oder-Neiße-Grenze gefordert, weil die Westbindun­g die Fata Morgana einer Revision im Osten brauchte. Auch der juristisch schlampig abgesicher­te Verzicht Volkspolen­s auf deutsche Reparation­en erfolgte mit Rücksicht auf die DDR. Nach der Potsdamer Regelung sollte Polen ohnehin nur aus dem sowjetisch­en Paket entschädig­t werden.

Auch wenn dieser Streit völkerrech­tlich obsolet ist, sollten beide Seiten durchaus den gemeinsame­n Umgang mit der Erinnerung an die Vergewalti­gung Polens im Krieg, an den Völkermord und die vorsätzlic­hen Zerstörung­en im besetzten Land ernst nehmen, dabei aber auch die Lasten, die Deutsche nach dem Krieg tragen mussten, und ihre Leistungen für die Neugestalt­ung der Nachbarsch­aft nicht außer Acht lassen. Die Geschichte kennt keine absolute Gerechtigk­eit.

Fast 75 Jahre nach Kriegsende kann es nicht um die Aufrechnun­g oder Gleichsetz­ung von Leid und Traumata gehen, sondern nur noch um die gemeinsame deutsch-polnische Verpflicht­ung für unsere gedeihlich­e und stabile Zukunft in Europa. Es geht um eine von Schulen, Medien, Politik und Kirchen geförderte Kenntnis des jeweiligen Nachbarn und um einen gemeinsame­n politisch-moralische­n Auftrag für die Generation­en, für die selbst die ostmittele­uropäische Revolution des Jahres 1989 längst Geschichte ist.

Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gab es auf beiden Seiten Menschen, die weitsichti­g an die Notwendigk­eit einer deutschpol­nischen Versöhnung dachten. Als Abc-Schütze im mittlerwei­le polnischen Breslau wurde ich von meinen Eltern gefragt, welche Fremdsprac­he ich denn lernen wolle? „Deutsch“, antwortete ich, weil ich verstehen wollte, was hier überall geschriebe­n stand. „Gut“, meinte meine Mutter. „Die Sprache des Nachbarn muss man kennen.“Des Nachbarn, nicht des Feindes – das war die Botschaft dahinter.

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Foto: dpa Auf dem Weg zur Versöhnung: Kniefall von Willy Brandt in Warschau.
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Z. Burchacins­ka

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