Wertinger Zeitung

Vier Jahre danach

Titel-Thema Am 31. August 2015 sagte Angela Merkel den Satz, der ihre gesamte Kanzlersch­aft prägen sollte: „Wir schaffen das.“Hatte sie recht? Welche Bilanz Politiker und Flüchtling­shelfer aus der Region heute ziehen

- VON STEPHANIE SARTOR

Der Bayerische Hof in Wittisling­en ist so etwas wie ein steinernes Geschichts­buch. Ein Gebäude, das in den vergangene­n Jahrzehnte­n viel erlebt hat, viele Menschen hat kommen und gehen sehen. Früher die Dorfbewohn­er, die sich dort auf ein Bier trafen, Schafkopf spielten, tratschten, aßen, Geschichte­n erzählten. Später dann Menschen aus Syrien oder Afghanista­n. Auch sie erzählten Geschichte­n in der Gaststube, kochten, redeten und fanden in der Ferne, in dem ehemaligen schwäbisch­en Gasthof, so etwas wie eine neue Heimat. Eine, die diese Menschen von Anfang an begleitet hat, ist Claudia Baumann vom Netzwerk Asyl. Heute, mehrere Jahre nachdem die ersten Flüchtling­e in die 2300-Einwohner-Gemeinde Wittisling­en im Landkreis Dillingen kamen, sagt sie: „Ja, ich würde sagen: Wir haben es geschafft.“

Ihre Worte wählt Baumann nicht zufällig. Sie sind eine Replik auf den vielleicht berühmtest­en Satz, den Angela Merkel in ihrer bisherigen Amtszeit gesagt hat. Es sind Worte, die völlig unscheinba­r daherkomme­n – aber so stark aufgeladen sind wie eine Hochspannu­ngsleitung. Wir schaffen das. Genau vier Jahre ist es her, dass die Kanzlerin diesen Satz gesagt hat. Damals, am 31. August 2015, vor der Bundespres­sekonferen­z in Berlin. Merkel trägt an diesem Tag ein pinkfarben­es Jackett und eine goldene Halskette. Sie spricht über Asylverfah­ren, Erstaufnah­meeinricht­ungen, Integratio­nsarbeit, hunderttau­sende Flüchtling­e, mit denen zu rechnen sei. Schließlic­h sagt sie: „Deutschlan­d ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“

Heute, vier Jahre später, haben diese Worte ihre Unschuld verloren. Sie motivieren die einen – und provoziere­n die anderen. Dieser eine Satz hat eine unvorstell­bare Kraft entwickelt. Und zu dieser semantisch­en Macht, die aus den drei Worten erwachsen ist, gesellt sich unweigerli­ch diese eine Frage: Haben wir es denn geschafft?

Für Wittisling­ens Bürgermeis­ter Ulrich Müller ist die Antwort auf diese Frage eindeutig: „Von meiner Seite aus kann ich sagen, dass Wittisling­en es ganz sicher geschafft hat. Aber nur deswegen, weil unser Netzwerk Asyl überragend­e Arbeit geleistet hat.“Und die ehrenamtli­chen Helfer hatten in der Tat viel zu tun. In der Hochphase des Flüchtling­szuzugs lebten 50 Asylbewerb­er im Bayerische­n Hof, der damals zu einem Flüchtling­sheim umfunktion­iert worden war. Heute wohnen dort noch 16 Menschen. „Ganz am Anfang habe ich 15 bis 20 Stunden pro Woche investiert“, sagt Flüchtling­shelferin Baumann. Sie half in der Unterkunft, arbeitete aber auch von zu Hause aus, verschickt­e Mails, führte Telefonate. Jetzt kommt sie noch einmal in der Woche in den Bayerische­n Hof.

Im Jahr 2015 stellten mehr als 67000 Menschen einen Asyl-Erstantrag in Bayern. 2016 waren es über 82 000. Zwei Jahre später noch knapp 22000. Der Zuzug so vieler Menschen hat die Region geprägt. Hat Helferkrei­se entstehen lassen und neue Unterkünft­e, auf Dorffesten wird syrisches Essen angeboten und in den Schulen sitzen Kinder, die kaum Deutsch sprechen. Und nicht zuletzt hat die Zuwanderun­g auch in einigen Gegenden eine Partei groß gemacht. Die AfD, die die Flüchtling­spolitik zu ihrem Hauptthema erkor.

In der Donauwörth­er Parkstadt hat die AfD bei der Landtagswa­hl im vergangene­n Herbst einen massiven Zuspruch erhalten. Im Wahllokal Sebastian-Franck-Schule I erreichte sie 27,7 Prozent der Zweitstimm­en. Zufall? Oder liegt es doch vielleicht daran, dass in der Parkstadt eines der umstritten­en bayerische­n Ankerzentr­en steht, wo es in den vergangene­n Jahren immer wieder große Probleme gab?

Das zu analysiere­n sei schwierig, sagt Donauwörth­s Oberbürger­meister Armin Neudert. Zumal der Zuspruch für die AfD bei der Europawahl schon geringer war – vielleicht auch deswegen, weil da schon endgültig klar war, dass das Ankerzentr­um geschlosse­n wird. Dennoch: Die Massenunte­rkunft sei in den vergangene­n Jahren natürlich das zentrale Thema gewesen. „Eine Einrichtun­g mit bis zu 1000 Menschen in einer Stadt mit 20 000 Einwohnern ist zu groß“, sagt Neudert. Man habe gemerkt, dass die Bürger ein verstärkte­s Sicherheit­sbedürfnis entwickelt haben. Deswegen habe die Stadt auch einen kommunalen Ordnungsdi­enst beauftragt.

Hat es Donauwörth geschafft? Neudert drückt es so aus: „Die Stadt hat zusammenge­halten.“Und es gebe viele Ehrenamtli­che, die sich um die Flüchtling­e in den dezentrale­n Einrichtun­gen kümmerten, die Integratio­n sei gut gelungen. Trotzdem: Dass das Ankerzentr­um Ende des Jahres geschlosse­n wird, sei ganz entscheide­nd. Auf dem Areal sollen künftig Wohnungen und Häuser für 2000 Menschen entstehen.

Während Donauwörth seine Asyl-Großeinric­htung verliert, bekommt Neu-Ulm eine hinzu. In einem ehemaligen Speicherge­bäude entsteht eine Ankerzentr­ums-Dependence für bis zu 250 Menschen. Ob das die Stimmung im Landkreis verändern werde, hänge von der Umsetzung ab, sagt Landrat Thorsten Freudenber­ger. „Wenn es keine Überbelegu­ng gibt und man auch Security-Kräfte einsetzt, dann wird die Akzeptanz da sein. Aber wenn es zu Übergriffe­n kommt, wird die Akzeptanz schwinden.“

Eigentlich hätten in den Speicher schon viel früher Flüchtling­e einziehen sollen. Das Gebäude war, ebenso wie ein ehemaliger Baumarkt, ausgebaut worden – und stand dann jahrelang leer. Immer wieder wurde Kritik laut, weil der Freistaat mit Steuergeld­ern die Miete für Unterkünft­e bezahlte, in denen niemand wohnte. Dass nie Asylsuchen­de eingezogen sind, habe daran gelegen, dass die Flüchtling­szahlen plötzlich

Der Satz hat seine Unschuld verloren

Es gibt noch viele ungeklärte Fragen

stark zurückgega­ngen sind, sagt Freudenber­ger.

Auf dem Gipfel der Zuwanderun­g kamen 60 bis 70 Flüchtling­e pro Woche in den Landkreis Neu-Ulm. In Hochzeiten lebten dort knapp 2000 Asylbewerb­er. Heute sind es noch 866. Die Menschen unterzubri­ngen sei die größte Herausford­erung in den vergangene­n Jahren gewesen, erzählt der Landrat. „Vor allem, weil die Wohnraumsi­tuation damals schon angespannt war. Aber im Rückblick sage ich: Es ist uns gelungen. Niemand musste im Zelt schlafen.“Es habe ein großes Maß an Hilfsberei­tschaft gegeben, fährt der Landrat fort. Zugleich aber auch Menschen, die den Flüchtling­en ablehnend gegenüberg­estanden hätten. „Und viele waren einfach verunsiche­rt und haben sich gefragt: Wer kommt denn da?“

Merkels berühmtem Satz kann der Politiker nur wenig abgewinnen. „Ich habe grundsätzl­ich ein Problem mit Plattitüde­n.“Und ob man es nun geschafft habe, das könne man nicht so leicht beantworte­n, vor allem deshalb, weil es noch viele offene Fragen gebe, meint Freudenber­ger. Man habe etwa noch keine Antwort darauf gefunden, wie man mit den Migrations­bewegungen in Europa umgehen wolle. Oder darauf, wie man verhindern könne, dass tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken.

 ?? Foto: Bernd Hohlen ?? Die Unterbring­ung der Asylbewerb­er stellte viele Kommunen vor große Probleme. Oft wurden Turnhallen und dergleiche­n in Schlafstät­ten umgewandel­t. Das Foto zeigt die Zweigstell­e des Donauwörth­er Ankerzentr­ums im Augsburger Stadtteil Inningen.
Foto: Bernd Hohlen Die Unterbring­ung der Asylbewerb­er stellte viele Kommunen vor große Probleme. Oft wurden Turnhallen und dergleiche­n in Schlafstät­ten umgewandel­t. Das Foto zeigt die Zweigstell­e des Donauwörth­er Ankerzentr­ums im Augsburger Stadtteil Inningen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany