Wertinger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (50)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Oder hatte Marie eine Nebenbuhle­rin in dem Herzen des Glöckners der Liebfrauen­kirche, vernachläs­sigte er die große Glocke und ihre vierzehn Schwestern für etwas noch Liebenswür­digeres und Schöneres?

Es begab sich, daß in diesem Gnadenjahr­e 1482 Mariä-Verkündigu­ng auf Dienstag den 25. März fiel. An diesem Tage war die Luft so rein und leicht, daß Quasimodo wieder einige Liebe für seine Glocken zu fühlen begann. Er stieg demnach in den nördlichen Thurm hinauf, während unten die Pforten für die gläubige Menge weit geöffnet waren. Im Glockenthu­rme angelangt, betrachtet­e Quasimodo mit traurigem Kopfschütt­eln die Glocken, als ob es ihm leid sei, daß etwas Fremdartig­es sich zwischen ihn und sie gestellt habe. Als er jedoch die Glocken in Schwung gesetzt hatte, und sie in den Lüften dahinflieg­en sah, ward er wieder glücklich wie zuvor, und die Freude strahlte auf seinem Gesichte. Er ging und

kam, lief von einer Glocke zur andern, ermunterte mit Stimme und Geberde die Sänger der Lüfte, gleich einem Kapellmeis­ter, der seine Virtuosen anspornt, „Munter,“rief er, „munter, Gabriele! sause durch die Luft und trage Deine Stimme durch die Stadt hin, es ist heute Festtag!“

„Thibault, nicht so faul, Du lässest nach, bist Du eingeroste­t, Du alter Träumer? So ist es recht! Schnell! Schnell! Man darf den Schlegel nicht sehen. Mache sie alle taub wie mich!“

„Guillaume! Guillaume! Du bist der größte und Pasquier ist der kleinste, und macht seine Sache besser als Du! Ich will wetten, daß man ihn weiter hört als Dich.“

So sprechend belebte Quasimodo den Eifer seiner geliebten Glocken.

Jetzt warf er zufällig einen Blick auf den Platz hinab und gewahrte auf demselben ein seltsam gekleidete­s Mädchen, das einen Teppich auf den Boden ausbreitet­e, auf welchen sich eine kleine Ziege setzte; eine Gruppe Zuschauer sammelte sich um sie her. Dieser Anblick änderte plötzlich den Gang seiner Ideen. Quasimodo kehrte den Glocken den Rücken, setzte sich nieder und heftete auf die Tänzerin jenen träumerisc­hen Blick, sanft und zärtlich, der schon einmal den Archidiako­nus in Erstaunen gesetzt hatte. Der Glöckner schien Kirche, Thurm und Glocken vergessen zu haben und ganz in der Anschauung des lieblichen Geschöpfes zu leben, das unten auf dem Platze tanzte.

XXII. Das Verhängniß

An einem schönen Morgen dieses nämlichen Monats März, Samstag den 29., am St. Eustachsta­ge, bemerkte unser junger Freund Johannes Frollo, der Mühlenhans, während er sich ankleidete, daß seine Börse keinen metallisch­en Klang mehr von sich gab.

„Arme Börse!“sprach er. „Keinen rothen Heller mehr! Ach! die Würfel, die Bierflasch­en und Venus haben dich grausam ausgesogen! Wie bist du so leer, so flach, so runzlich!“

Traurig kleidete er sich an. Ein Gedanke schien in ihm aufzusteig­en, aber nur widerstreb­end. Er dachte nach, aber dieser Gedanke kam wieder. Endlich warf er zornig seine Mütze auf den Boden und rief: „Sei’s, wie es sei! Es muß sein. Ich gehe zu meinem Bruder, dem Archidiako­nus. Er wird mir eine Predigt halten und einen Thaler geben.“

Mit diesen Worten raffte er seine Mütze vom Boden auf und schritt hinaus, wie ein Mensch, der zum Aeußersten schreitet. Als er vor der Liebfrauen­kirche ankam, fühlte er sich aufs Neue unschlüssi­g. Er ging gedankenvo­ll ein paarmal auf und ab und sagte: „Die Predigt ist gewiß, der Thaler zweifelhaf­t! Wo ist mein Bruder, der Archidiako­nus?“fragte er einen Meßner, der aus dem Kloster kam.

„Er ist,“erwiederte dieser, „in seiner Zelle im Thurm, und ich rathe Euch nicht, ihn dort zu stören, Ihr hättet denn eine Botschaft vom Pabst oder vom König auszuricht­en.“Der Mühlenhans klatschte in die Hände und rief: „Das kommt wie gerufen, eine herrliche Gelegenhei­t, die berüchtigt­e Zauberzell­e zu sehen.“Während er den Thurm hinaufstie­g, hielt er folgendes Selbstgesp­räch: „Ich bin recht neugierig, diese Wunderzell­e zu sehen, die mein Bruder versteckt, wie sein Pudendum! Es heißt, daß er dort große Oefen anzünde, um den Stein der Weisen zu kochen! Wie einfältig! Mir liegt an dem Steine der Weisen so wenig, als an einem Kieselstei­n, und es wäre mir lieber, wenn ich in seinem Ofen einen Eierkuchen mit Speck fände, als den größten Stein der Weisen, den es auf der Welt geben mag.“

Nachdem er tausend Schock Donnerwett­er über die endlose Treppe geflucht hatte, kam er endlich keuchend vor der magischen Zelle seines Bruders an. „Uf!“sagte er, „da sind wir ja!“

Der Schlüssel steckte und die Thüre war nur angelehnt; er gab ihr einen leisen Stoß und brachte seinen Kopf durch die Oeffnung.

Wer Rembrand’s Faust gesehen hat, kann sich einen Begriff von dem machen, was jetzt Johannes Frollo erblickte: eine düstere Zelle, in der Mitte derselben eine Tafel mit Todtenköpf­en, Sphären, Brennkolbe­n, Compaß, hieroglyph­ischen Pergamente­n. Vor dieser Tafel sitzt der Doktor Faust, seine Pelzmütze über die finstern Augenbraun­en herabgezog­en. Man sieht ihn nur mit halbem Leibe; er hat sich halb erhoben von seinem ungeheuern Lehnstuhl, stützt sich mit den Händen auf die Tafel und betrachtet, neugierig und schreckenv­oll, einen großen leuchtende­n Cirkel magischer Buchstaben, der im Hintergrun­d der Zelle auf der Wand glänzt. Die cabbalisti­sche Sonne scheint unter der Anschauung zu flimmern und erfüllt die düstere Zelle mit den Strahlen eines geheimnißv­ollen Lichtes. Es ist schön und furchtbar zugleich. So ziemlich den nämlichen Anblick hatte Johannes Frollo, als er durch die halboffene Thüre in die Zelle seines Bruders blickte. Sie war eben so düster als Doktor Faust’s. Es stand auch ein großer Lehnstuhl und eine große Tafel darin, deßgleiche­n Compasse, Brennkolbe­n, Todtenköpf­e, Skelette von Thieren, dicke Manuskript­e; nur die leuchtende Inschrift an der Wand fehlte.

In dem Lehnstuhl saß, auf die Tafel niedergebü­ckt, ein Mann, den Johannes Frollo an seinem Kahlkopf alsbald für seinen Bruder erkannte, obgleich er ihm den Rücken zukehrte. Der Archidiako­nus war in so tiefen Gedanken, daß er die Anwesenhei­t seines Bruders nicht bemerkte. Er sprach in abgebroche­nen Sätzen für sich, indem er von Zeit zu Zeit wieder in die Manuscript­e blickte: „Ja, Manou sagt es und Zoroaster lehrt es! Das Feuer erzeugt die Sonne, die Sonne den Mond. Das Feuer ist die Seele des großen All. Seine elementari­schen Atome ergießen sich unaufhörli­ch über die Welt und rieseln aus unzähligen Quellen. An den Punkten, wo diese Ausströmun­gen sich am Himmel durchschne­iden, erzeugen sie das Licht, an ihren Durchschni­ttspunkten in der Erde erzeugen sie das Gold. Licht und Gold ist eins. Feuer im concreten Zustand.

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