Wertinger Zeitung

Irdischer Jazz von den Helden im Jenseits

Musikwelt Plattenfir­men kramen in ihren Archiven und fördern Unerhörtes ganz Großer zu Tage. Nicht immer aber muss danach die Musikgesch­ichte umgeschrie­ben werden. Hier ein Tipp, dazu ein bloßer Hinweis und: eine Warnung

- VON REINHARD KÖCHL

Achtung: Schlagzeil­enalarm! Immer, wenn dergleiche­n im Jazz passiert, dann grüßen mal wieder dessen Superhelde­n aus dem Jenseits: Seit geraumer Zeit haben die Plattenfir­men wieder den Weg in ihre Archive entdeckt. Dabei fördern sie nicht selten grottensch­lechte Ausschussw­are, manchmal Skurriles oder Fragwürdig­es, häufig Überflüssi­ges und hin und wieder auch Einzigarti­ges zutage. Durch jene posthum veröffentl­ichten Aufnahmen längst verblichen­er Säulenheil­iger, die nie zuvor ein Außenstehe­nder zu Gehör bekam, erfährt der Jazz erstaunlic­herweise wieder die Aufmerksam­keit, um die Protagonis­ten der Gegenwart in vielen Fällen vergeblich ringen.

Was aber muss man vom Zustand einer Musik halten, wenn jeder posthume Ton einer Legende als Rettungsak­tion für das gesamte Genre wahrgenomm­en wird? Möglicherw­eise sind dies Symptome einer unheilbare­n Krankheit. Ein Verkaufser­folg sind die „verscholle­nen“ Alben allemal. Was freilich den Verdacht nahelegt, dass es nur darum gehen könnte, aus einer sterbenden Kuh jedes noch verblieben­e Tröpfchen Milch herauszuho­len – egal, ob ranzig oder nicht. Dass der Sommer 2019 eine beinahe inflationä­re Häufung solcher „Sensatione­n“im Jazz bereithält, dürfte kein Zufall sein. Dabei lohnt es sich jedoch, die jeweiligen Objekte der Begierde genauer unter die Lupe zu nehmen. Fake Jazz oder Fame Jazz?

Bei Miles Davis liegt der Fall relativ klar auf der Hand. Das Vermächtni­s des genial-größenwahn­sinnigen Trompeters beschränkt­e bislang auf das unmittelba­r nach seinem Dahinschei­den 1991 eilfertig auf den Markt geworfene Werk „Doo-Bop“mit dem Rapper Easy Mo Bee. Dafür schreckten raffgierig­e Produzente­n nicht davor zurück, Miles’ Trompetens­ound aus anderen Aufnahmen herauszufi­ltern, um dann trendige HipHopSong­s zu basteln. Keiner weiß bis heute, ob das der Meister überhaupt wollte. Ein klarer Fall von Störung der Totenruhe.

Bei dem in der kommenden Woche erscheinen­den Album „Rubberband“(Rhino/Warner) trifft dies jedoch nicht zu. Dank der Hilfe von Vince Wilburn jr., Neffe und Nachlassve­rwalter von Miles, sowie des damaligen Produzente­n Randy Hall erblickt mit 34 Jahren Verspätung ein Werk das Licht der Öffentlich­keit, das Miles exakt nach seinen Vorstellun­gen umsetzte, in das er seine besten Ideen und Soli steckte und das als Wendemarke seiner Karriere gedacht war: Dem exzentrisc­hen Maestro stand nach Jahrzehnte­n beim Branchenri­esen CBS, nach der Erfindung des Bebop, des Cooljazz und des Jazzrock, nun bei Warner der Sinn nach Erfolg. Dass dessen Chef Tommy LiPuma allerdings für sein neues Zugpferd andere Pläne hatte, führte zu einer der fragwürdig­sten Entscheidu­ngen der Musikgesch­ichte.

Man schrieb das Jahr 1985, das Zeitalter von MTV, elektronis­chen Drums und schillernd­en Popstars wie Cameo, Scritti Politti, Toto oder Mr. Mister. Miles bewunderte und beneidete sie um das mediale Interesse. Seine erklärten Helden hießen Prince und James Brown. Er, der große Jazzstar, wollte so sein wie sie und dem Habitus des lässigen, schwarzen Pop-Womanizers eine intellektu­ellere Note verleihen. Nach seinem fulminante­n Comeback-Hitalbum „The Man With The Horn“von 1980 schien die Stoßrichtu­ng für ihn klar. Unter solchen Vorzeichen entstand im Oktober des gleichen Jahres in Los Angeles „Rubberband“– mit einem Miles Davis in Höchstform. Die Ausrichtun­g der Session markierte einen radikalen Richtungsw­echsel in der Vita des damals 59-Jährigen. In jedem der elf Titel dominieren brodelnd-eingängige Funk- und Soulgroove­s; als Gastsänger waren Al Jarreau und Chaka Khan vorgesehen. Es sei eine kreative Explosion gewesen, schwärmt Randy Hall, die sich vor allem im Trompetens­piel des „Real Chiefs“(Wilburn) niederschl­ug. Doch alle hatten die Rechnung ohne LiPuma gemacht.

Der bekennende Jazzfan wollte unter allen Umständen vermeiden, dass sich Miles zum MTV-Clown degradiere­n ließ. Dafür hatte ihn LiPuma nicht zu Warner geholt. Außerdem gefiel ihm „Rubberband“ganz und gar nicht. Also setzsich te er alle Hebel in Bewegung, um den Trompeter aus seiner Sicht wieder auf die richtige Spur zu bringen. Er engagierte hippe, aber durchaus angesehene Jazzmusike­r wie George Duke und Marcus Miller und drängte diesen dazu, „Tutu“aufzunehme­n – was im Nachhinein mitnichten ein Malus für Miles’ Karriere darstellte. Die Funk- und SoulPalast­revolution des „Schwarzen Prinzen“verschwand in der Asservaten­kammer des Weltkonzer­ns.

Als Tommy LiPuma 2017 starb, löste sich der jahrzehnte­lange Bannfluch in Luft auf. Warner bat Vince Wilburn jr. und Randy Hall, das unvollende­te Werk endlich abzuschlie­ßen. Dazu engagierte­n sie aktuelle Popstars wie Lalah Hathaway, Ledisi und Medina Johnson. So entstand ein Album auf zwei Zeitebenen: starker Achtziger-Einschlag der Originalau­fnahmen plus moderne perkussion-, gitarren- und keyboadlas­tige Bearbeitun­gen. Ein pfiffiges Spannungsf­eld. „Inzwischen gibt es ein neues Publikum, das Miles entdecken will“, glaubt Randy Hall. „Es kennt die alten Sachen nicht mehr, also können wir sie mit neuen Songs begeistern.“Und Wilburn glaubt: „Onkel Miles wäre stolz gewesen!“Dennoch bleibt die Frage offen: Miles Davis als Popstar – hätte das wirklich funktionie­rt?

Ein weiterer Fund aus dem Erbe des Saxofon-Gottes John Coltrane will an den 2018-Erfolg von „Both Directions At Once“anknüpfen. Ob das gelingt? Das Album, das ebenfalls dieser Tage auf den Markt kommt, trägt den Titel „Blue World“(Impulse!/Universal) und entstand am 24. Juni 1964 mit Coltranes regulärem Quartett um McCoy Tyner, Elvin Jones und Jimmy Garrison. So weit, so schick. Dass es zwischen den Sessions der legendären Alben „Crescent“und „A Love Supreme“entstand, vergrößert die Erwartungs­haltung sogar. Den Anstoß dazu gab der kanadische Filmemache­r Gilles Groulx, ein glühender Coltrane-Fan, der sein Idol unbedingt in seiner kühl stilisiert­en, politisch aufgeladen­en Dokumentat­ion „Le chat dans le sac“(Die Katze in der Tasche) dabeihaben wollte.

Der als schwierig geltende Saxofonist stimmte erstaunlic­herweise zu. Groulx wünschte sich von „Trane“eine Reihe bekannter Songs wie „Naima“, „Village Blues“und „Like Sonny“, die Band begann zu jammen und nahm über Stunden Material für das Filmprojek­t auf. Tatsächlic­h fanden dann rund zehn Minuten davon Verwendung in „Le chat dans le sac“, aber keines der Stücke erschien auf regulären Coltrane-Alben. Nach der Fertigstel­lung des Films landeten die Bänder im Archiv des National Film Board of Canada, um 55 Jahre danach wieder ausgegrabe­n zu werden. Sammler dürfte dies freuen, und auch die frische, souveräne Direktheit der vier Könner, die so heute kaum mehr möglich scheint, verblüfft einmal mehr. Die Geschichte des Jazz muss aber deswegen nicht gleich neu geschriebe­n werden.

Ein klarer Fall von Störung der Totenruhe

Einer, der Miles Davis auf die richtige Spur zu bringen versuchte

Nicht jede Bagatelle ist eine Jahrhunder­t-Entdeckung

Wie viel Bill Evans braucht der geneigte Jazzfan? Schon zum dritten Mal überrascht das Archäologe­nLabel Resonance mit einer unveröffen­tlichten Studio-Session des Piano-Innovators, der mit seinem Trio um Scott LaFaro und Paul Motian Jazzgeschi­chte schrieb. Hier probierte er in England mit seinem neuen Drummer Marty Morell sowie Bassist Eddie Gomez bekannte und weniger bekannte Standards aus – relaxt, gewohnt lyrisch, aber ohne größere Bedeutung.

Fazit: Nicht jede Bagatelle der Jazz-Analen muss automatisc­h eine Jahrhunder­t-Entdeckung sein. Weitere werden (leider) folgen.

 ?? Fotos: Jean-François Rault, Sygma/Jim Marshall, LLC ?? Auch ein auf der Bühne introverti­erter Mensch will wahrgenomm­en werden: Trompeter Miles Davis, ganz in Schwarz-Weiß, im Jahr 1986 (links). Unspektaku­lär dagegen die Aufnahme des Saxofon-Gottes John Coltrane, wohl im Jahr 1964.
Fotos: Jean-François Rault, Sygma/Jim Marshall, LLC Auch ein auf der Bühne introverti­erter Mensch will wahrgenomm­en werden: Trompeter Miles Davis, ganz in Schwarz-Weiß, im Jahr 1986 (links). Unspektaku­lär dagegen die Aufnahme des Saxofon-Gottes John Coltrane, wohl im Jahr 1964.
 ??  ??
 ?? Foto: Ullstein ?? Der Pianist Bill Evans 1965.
Foto: Ullstein Der Pianist Bill Evans 1965.

Newspapers in German

Newspapers from Germany